„Neues aus der Zitty“ – Geschichtchen und Geschichten,  Tatsachen und Erfundenes


Fangen wir einmal so an. Wir leben hier in einer kleinen Stadt, nennen wir sie „St. Überall“.

St. Überall besitzt einen alten Stadtkern, dort schlug einmal das Herz der Stadt (Foto: hier klicken). Handel & Wandel gibt es mittlerweile jedoch nur noch recht spärlich in der Innenstadt, der Puls schlägt jenseits der Bahnlinie auf der „Grünen Wiese“, bei den Supermärkten und Discountern.  Die Bahnlinie trennt  beide Bereiche - fußläufig wie auch gefühlt. 

St. Überall hat einen Bürgermeister und einen Stadtrat, beide gehören derselben Partei an. Im Stadtrat besitzt die Partei eine satte absolute Mehrheit. Und das seit mehr als 30 Jahren. Verwaltungschef und Stadtratsmehrheit haben also die Entwicklung der Stadt in den letzten drei Jahrzehnten zu verantworten.
Der Bürgermeister hat seine Partei und damit den Stadtrat fest im Griff, manche meinen im Würgegriff. Louis XIV. sagte: „L’état c’est moi“, der Bürgermeister sagt das auch. Und deshalb passiert in St. Überall nur das, was der Verwaltungschef will. Oder es passiert nichts, weil er es nicht will.

Der Bürgermeister hat noch eine Besonderheit: er möchte sich unentwegt als der große „Macher“ profilieren. Und was macht er? Events, eines nach dem anderen. Prinzip "Wundertüte". Seien es Sportveranstaltungen, Märkte oder Feste: alles, was eine Bühne verträgt, wird in St. Überall veranstaltet. Und dort präsentiert er sich dann gerne dem staunenden Publikum. Und alles muss „hochkarätig“, „weltweit“ oder zumindest „europaweit einmalig“ sein. Ein bürgermeisterliches Zitat aus dem Tageblatt: "Ich sammele deutsche Meisterschaften". Dudenhöffers Heinz Becker würde kommentieren: "Alles geschwätzt!"


Natürlich lenken auch die Verkehrsschilder den Ortsfremden nicht in das „Stadtzentrum“, sondern in die „City“. Weltläufig möchte man im Rathaus sein, doch bitte nicht provinziell oder das, was man dafür hält. Und hier beginnt unsere Story. Vor einiger Zeit konnte der Chronist folgende Situation miterleben. Ein ortsfremder Autofahrer hielt an und fragte eine Passantin nach dem Weg in die Innenstadt. Die Frau, eine waschechte Nordsaarländerin, gab bereitwillig Auskunft - off Saarlännisch. „Sie misse imma nur dääne Schilda mit „Zitty“ noofahre“, erklärte sie dem Hilfe suchenden Autofahrer.

Oh heilige Dialektik! Hier das Eigenverständnis abgehobener Rathäusler – und dort die Bevölkerung mit festem Stand auf dem Boden der einheimischen Tatsachen. New York –London –Tokio – St. Überall, das funktioniert nicht. Dann kommt „Zitty“ dabei heraus.  Tja, „Zitty“ hat mir gefallen. Ich möchte Ihnen hier Neues aus der Zitty erzählen, Geschichten und Geschichtchen, wahre - halbwahre - erfundene. Nicht in regelmäßigen Abständen, sondern je nach Anfall und  ein wenig literarisch zubereitet. Stories, wie sie überall passieren könnten, nicht nur in St. Überall. Kein Säbel soll es werden, mit dem Florett ficht es sich immer eleganter, und es macht mehr Spaß.

Und damit Rechtsanwälte keine Arbeit bekommen: Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären dann rein zufällig.

Schauen Sie doch immer wieder mal rein und erleben Sie „Neues aus der Zitty“. Und wenn Sie selbst Geschichten aus der "Zitty" erzählen wollen, mein Gästebuch steht für Ihren Eintrag bereit; ich setzte mich dann mit Ihnen gerne in Verbindung.


Hinweis: die aktuelle Story steht immer hier an oberster Stelle


Übersicht
  • Ja wer liegt denn da? Gastbeitrag von Roland Geiger
  • Das große Knacken
  • Als das Ehepaar Janitschek St. Überall besuchte
  • Die Geschichte der  St. Wendeler"Lindenau" und der "Starfighters"
  • Der Erziehungsversuch
  • Auf die Lanze, fertig, los
  • Als der Heilige Überall seine Stadt besuchte
  • Das Trail-run-Event Keep on running
  • Multifunktional

  • Allright, people

  • Goliath & der Boss

  • Krach am Bach

  • Krokodiltränen und Neidhammel

  • Die "Rennstadt"

  • Früher war alles besser ….

  • Die Großgeldverdiener

  • Zitty-Manager:   die Fortsetzung

  • Die Krühlstraße
  • Die Bürgermeisterwahl
  • Der Expansionsberater

  • Der Zitty-Pilot

  • Wahlkampf in St. Überall

  • Die Kneipenszene

  • Das Marktgeschehen (II)

  • Der Leerstand

  • Der Bildband

  • Der Flaneur
  • Marktgeschehen (I)

  • Der Zitty-Manager


Hier kommt der St. Wendeler Stadtführer und Reginalforscher Roland Geiger mit einem Gastbeitrag zu Wort.

Ja wer liegt denn da ?

Da stehe ich heute Mittag im Dom zu St. Wendel und erkläre den Leuten, warum sie keinen Hut anlassen sollen, wenn sie reinkommen, und zeige ihnen, wo der Wennel  [Anmerk. d. Red.: gemeint ist der Heilige Wendelin]  liegt, und wo er nicht liegt und beantworte noch andere bedeutende Fragen gleich welcher Art.

Und dann kommt die eine Dame da rein und meint - auf die Tumba deutend: „Wadd issn dadd?“

„Ein großer Tisch“, entgegne ich.

„Ach, iss dadd kein Grab?“ fragt sie.

„Nein“, sage ich, „das Grab ist da oben“, und leuchte mit der Taschenlampe auf den Sarg und sage: „Das ist der Sarg. Und das Grab ist hinterm Altar“.

„Ach“, meint sie, „wer liecht denn da?“

„Na, was meinen Sie denn?“ frage ich.

„Keine Ahnung“, sagt sie, „ich bin nicht von hier“.

„Na, wie heißt denn diese Kirche?“ will ich ihr auf die Sprünge helfen.

„Weiß ich nicht.“

„Wie heißt denn die Stadt?“

„St. Wendel?“ fragt sie unsicher.

„Ja, genau. Und die ist benannt nach dem Heiligen, der in dieser Kirche verehrt wird.“

Und ich frage weiter: „Was meinen Sie, wer liegt jetzt in dem Grab da oben?“

Da wird sie gleich sicherer: „Ach so, na das muss dann der  J e s u s sein.“

Das verschlägt selbst mir die Sprache. Und dazu bedarf’s dann doch schon so einigem.

Das große Knacken

Sattsam bekannt ist ja nun das Streben des St. Überaller Rathaus-Chefs Nickel Grouilion, sein Streben nach Hoch- und Höchstwertigem, Hochkarätigem und nach weltweit Einmaligem. In welchem Genre, in welchem Bereich - das ist, sagen wir einmal „sekundär“. Andere sagen „Wurscht“ dazu, auch dies ist richtig.

Nun dachte sich der Chronist, immer wieder gegen den Stachel zu löcken und Finger in Wunden zu legen, mag manchem, besonders dem Bürgermeister, auf die Dauer defätistisch erscheinen. Deshalb wollte er doch einmal die konstruktive Seite seiner Persönlichkeit beleuchten und ganz im Sinne der Grouilion‘schen Denkweise eine neue Idee zur großen Sammlung städtischer Events beisteuern.

So machte sich der Chronist auf den Weg, betrat das Rathaus und bat im Vorzimmer des „Machers“ um einen Termin bei Nickel Grouilion. Er wolle, sagte er der Sekretärin, die Idee zu einem neuen Event vorstellen, ein Event, wie es wohl europaweit einmalig sein dürfte. In den USA existiere möglicherweise so etwas schon, aber nur möglicherweise. Im alten Europa hingegen werde ein solches Event sicherlich ein mordsmäßiges Alleinstellungsrecht besitzen.

Sekretärinnen sind in der Regel auf ihre Chefs geeicht, sie kennen deren Vorlieben und Aversionen und antizipieren deren Denkweise häufig perfekt. Und sie reagieren, wie alle Menschen, auf Schlüsselworte, ganz nach der Art eines Pawlow’schen Hundes. Die Grouilionischen Schlüsselworte heißen bekanntermaßen „hochkarätig“, „weltweit einmalig“, „hochwertig“ und „einzigartig“, um nur eine kleine Auswahl zu präsentieren. „Europaweit einmalig“ lag zwar eine Stufe unter „weltweit einmalig“, aber die Relevanz eines solchen Events getraute sich die Vorzimmerdame nun doch nicht selbst zu beurteilen. Und so erhielt der Chronist einen Termin bei dem St. Überaller Bürgermeister.

Der Tag des Termins brach an, den Chronisten beschlichen nun doch einige leise Selbstzweifel, ob seine Idee für St. Überall das Richtige sei und Gnade fände vor den Augen des großen Grouilion. Zweifel sind bekanntlich böse Nager, Selbstzweifel nagen noch tiefer, oftmals solange, bis die eigene Selbstsicherheit nur noch zu einer leblose Hülle geworden ist. Tapfer trat der Chronist den Gang ins Rathaus an, meldete sich im Vorzimmer des Verwaltungschefs und wartete stille, auf dass sich die Tür zum Allerheiligsten öffne.

Der große Grouilion trat ein, Rahmen füllend baute er sich in der Türumrandung auf. Von der Natur mit einer kräftigen Figur ausgestattet, deren Brustkorb er bei Bedarf aufblähen konnte, gab er eine imposante, Respekt heischende Erscheinung ab. Dem Prinzip der kommunizierenden Röhren entsprechend minimierte sich die physische Erscheinung des Chronisten im gleichen Verhältnis. Ob er wollte oder nicht, der Chronist war sich sicher, dass der Rathaus-Gewaltige den Mund öffnen und als erstes „Was Du wolle?“ fragen würde.


„Und?“, fragte der Bürgermeister. Die Stunde der Wahrheit schlug, die Idee musste nun auf den Tisch und sich der unerbittlichen Beurteilung des Allgewaltigen stellen. „Und, was ist das für eine Idee?“ Der Chronist atmete tief durch, gab sich einen Ruck und erläuterte:“ Also, ich denke mir das so: Man könnte doch eine Europameisterschaft im Erdnuss-Knacken ausschreiben, etwas derart Einzigartiges und Hochkarätiges war meines Wissens noch nie da.“ „Erdnuss-Knacken?!“ Grouilion runzelte die Stirn. „Soll ich hier verarscht werden?!“. Dabei wirkte er aber durchaus interessiert, vielleicht ein wenig irritiert, das kam zu plötzlich.

Der Chronist witterte eine Chance. „In den USA gibt es das möglicherweise schon, denken Sie an den früheren Präsidenten Carter, der war Erdnuss-Farmer. Aber in Europa sicher noch nicht, hierzulande baut man ja in der Regel keine Erdnüsse an.“

Der Bürgermeister schien nachzudenken. „Und wie soll das funktionieren?“, fragte er nach. „Man müsste etwas Besonderes aus dem Wettbewerb machen, einfach so die Nüsse knacken wäre zu wenig“, legte der Chronist nach. „Und wie?“ Grouilion war bekannt für seine knappe Art, er sei kein Schwätzer, diktierte er stets dem Tageblatt in den Block. „Also“, sprach der Chronist, „ mit den Händen aufknacken wäre zu einfach. Ich hatte mir gedacht, man müsste die Erdnüsse mit dem Hintern knacken, das funktioniert. So zwischen die beiden Arschbacken legen und dann pressen. Ich habe mal in einer Zeitung gelesen, dass es auf diese Weise auch geschehen kann.“


Der Bürgermeister schaute verblüfft auf. „Mit dem Hintern?“, fragte er ungläubig, „das soll funktionieren?“ Anscheinend lehnte er die Idee nicht von vorneherein ab, der Chronist schöpfte Hoffnung. „Man spricht ja auch von einem „Knackarsch“, vielleicht wurde diese Wortschöpfung abgeleitet von einem solchen Wettbewerb, der heutzutage nur noch einmal wiederbelebt werden müsste.“

Der Rathauschef schien nachzudenken. Mit einer solchen Idee könnte man sicherlich Aufmerksamkeit erregen, man wäre wieder einmal der Erste, die eigene Krone würde wieder einmal kräftig aufpoliert. Grouilion nickte bedächtig, wiegte dann aber den Kopf hin und her, anscheinend schwankte sein Urteil zwischen „Machen wir!“ und „Was für ein Blödsinn!“.

Nach Kopfnicken und Schwanken wandte sich der Bürgermeister wieder dem Chronisten zu. „Also, die Idee ist so schlecht nicht, sie könnte glatt von mir sein“. Ob das ein Lob war? Der Chronist zweifelte. Jedenfalls glaubte er, keine allzu negativen Befindlichkeiten heraus gehört zu haben. „Mal sehen, was man da machen kann“, verabschiedete Grouilion den leicht verdattert dastehenden Chronisten.

Wochen und Monate gingen ins Land, man saß im Biergarten, tauschte Neuigkeiten aus und ließ die Vögel singen. An Erdnuss-Knacken dachte der Chronist schon längere Zeit nicht mehr, wahrscheinlich hatte die Idee doch nicht nachhaltig bei dem Rathauschef gezündet. Dann, an einem Freitag Morgen schlug der Chronist das Tageblatt auf und überflog die Aufmacherzeile „Bürgermeister Grouilion mit einzigartigem neuen Event: Europameisterschaften im Kirschkern-Knacken nächstes Jahr in St. Überall!“

„Ich hätte es wissen müssen“ fasste sich der Chronist erst an den Kopf und schüttelte denselben. Natürlich war es dem Bürgermeister viel zu einfach, Erdnüsse mit dem Hintern knacken zu lassen. In seiner Stadt mussten da schon schwierigere Übungen heran, da waren Kirschkerne für echte Männerärsche gerade die richtige Herausforderung.

Grouilion las ebenfalls die Zeitung und war mit sich sehr zufrieden. Morgen würde die neue Großtat überregional auf der Kulturseite des Blattes verkündet werden und die Kulturchefin Else Kathrein-Scheringhütt in ihrem Kommentar wieder vom großen "Macher" und seinen genialen Kultur-Events begeistert sein.



Als das Ehepaar Janitschek St. Überall besuchte

Da kam doch dieser Tage tatsächlich ein freundlicher Herr mit seiner etwas korpulenten Gattin aus dem fernen Bochum angereist. In St. Überall stiegen beide aus dem Inter-Regio, der sie über Bingen und Bad Kreuznach zu dem Bahnhof gebracht hatte. Den Ortsheiligen wollten sie besuchen, an seiner Tumba in der Basilika beten. Sie verehren Heilige, erzählten sie, besonders solche, die sich während ihres Erdendaseins den kleinen Leuten mit ihren Sorgen und Nöten gewidmet hätten. Der Heilige Überall sei ein solcher gewesen.

So entstiegen sie dem Fernzug und standen auf dem Bahnsteig, leicht irritiert um sich schauend mit fragendem Blick. In der Werbeanzeige der Stadt St. Überall hatten sie gelesen: „Sie entsteigen Ihrem Bahnabteil auf dem einladenden Bahnhof in St. Überall und werden von einem freundlichen Städtchen herzlich willkommen geheißen“.

Als „einladend“ empfanden Herr Janitschek und seine Gattin den Bahnhof nun nicht gerade. Stark angeschmutzte Gebäude, die in den sechziger Jahren wohl schon bessere Zeiten gesehen hatten. Waren sie auf dem falschen Bahnhof gelandet? Zögernd stiegen sie die breite Treppe hinab in den Vorraum, sahen hinter der Abschlusstür eine weitere Treppe, die allem Anschein nach in den Untergrund führte. Der Untergrund stelle sich als Unterführung heraus, die das Bochumer Ehepaar mit anschwellenden Ekelgefühlen durchquerte. Farbschmierereien an abweisend gekachelten Wänden beleidigten das Auge, penetranter Uringestank belästigte die Nase, unweigerlich hielten die beiden den Atem an.

Wieder an der Oberfläche atmeten Herr und Frau Janitschek erst einmal kräftig durch. So hatten sie sich die in der Anzeige verheißene  „Begrüßung“ in der Stadt des Heiligen Überall nicht vorgestellt. Aber sie wollten sich ihren Kurzurlaub nicht schon gleich zu Beginn vermiesen lassen.

„In der Hauptstraße, der pulsierenden Schlagader unserer Stadt, gedeihen Handel und Wandel auf’s Beste. Geschäftiges Leben erfüllt die attraktiven Geschäfte, Besucherscharen eilen und verweilen, Sie stehen mitten im quirligen Leben“. So stand es weiter in der Anzeige, die das Ehepaar Janitschek in Bochum zu seinem Ausflug ins nördliche Saarland animiert hatte.

Herr Janitschek beugte sich zu seiner Frau. „Ich habe nun doch Zweifel, ob wir in der richtigen Stadt gelandet sind.“ Verunsichert gingen sie die etwa zweihundert Meter lange Straße hinunter, links und rechts normale innerstädtische Bürgersteige, dazwischen eine Einbahnstraße, von den Stop-and-Go-Phasen qualmender Autos verstopft. Abgasgeruch lag in der Luft, in den wenigen Geschäften langweilten sich Verkäuferinnen, einige Ladenlokale standen leer.

„Genießen Sie die Ruhe in unserer pittoresken Stadt, atmen Sie die erfrischende Luft in unserem urbanen und doch naturnahen Raum.“ Herr Janitschek erinnerte sich an die Aussage in der Anzeige, die sie so erwartungsvoll gestimmt hatte. „Na gut“, sagte er zu seiner Frau, „übertreiben tun die Werbefritzen ja immer ein wenig.“ „Ein wenig …“, seufzte seine Gattin und beließ den Rest des angefangenen Satzes in ihren Gedanken.

Am Ende der Hauptstraße öffnete sich ein freundlicher Platz, er schien die Mitte des Städtchens zu bilden. Dort begann allem Anschein nach auch eine Fußgängerzone. Vorbei an einladenden Straßencafés und der Rathausfront folgten die Janitscheks dem Hinweisschild „Basilika“, ihrem eigentlichen Ziel.

Plötzlich, völlig unerwartet, nachdem sie um eine Straßenecke gebogen waren, stand die mächtige Kirche vor ihnen, von einem Zwiebelturm gekrönt. Ein Ensemble von alten Fachwerkhäusern bildete die Umgebung, die sich seit dem Mittelalter anscheinend nicht verändert hatte. Die weit ausladende Treppe lud Familie Janitschek zum Besuch der Kirche ein. Das Ehepaar folgte der Einladung, man war kurz vor dem Ziel, und beide freuten sich auf eine stille Begegnung mit dem Heiligen in seiner Tumba.

Sie traten in das Gotteshaus ein, ins Innere eines spätgotischen Doms mit mächtigen Säulen und frommen Wandmalereien. Die innere Ruhe, die sie bei jedem Eintritt in einen Sakralbau verspürten, hatte sich bereits eingestellt. Doch was war das? Ganz vorne aus dem Chor des Doms erklang eine laute und raue Stimme, die in getragenem Ton und stark akzentuiert wuchtige Sätze in den Raum schleuderte. „Ich bin der große Macher!“ rief die Stimme im Chor, „ich habe meine Stadt aufgebaut. Nur ich und sonst keiner. Ich bin der Größte von allen!“  Dabei schritt der groß gewachsene Mann, denn um einen solchen handelte es sich,  würdevoll zwischen dem Chorgestühl hin und her, breitete seine Arme aus und hob sie mit bedeutungsvollen Gesten gegen den Himmel. Dann aber sprang er plötzlich hin und her und stieß schrille Schreie aus.

Von den Wänden schallten seine Rufe zurück, die Echos überschlugen sich und der gesamte Kirchenraum war erfüllt von seiner Stimme. Herr Janitschek schaute seine Frau an, die seinen verblüfften Blick ebenso verblüfft erwiderte. Sie waren auf eine innere Begegnung mit dem Heiligen Überall vorbereitet, aber ein Treffen mit einem reinkarnierten Rumpelstilz hatten sie nicht erwartet.

Der Rufer in der Kirche entdeckte plötzlich das Ehepaar, er schien erschrocken zu sein. Und dann drehte er sich auf dem Absatz herum und verschwand wie der Blitz durch die Chorpforte. „Mein Gott“, sagte Herr Janitschek leise zu seiner Gattin, „auch hier gibt es also Irre.“ „Aber anscheinend nur harmlose“, nickte Frau Janitschek.

Das Ehepaar schritt zum Ort des skurrilen Auftritts und fand die Tumba des Heiligen am unteren Ende des Chores. In stiller Andacht beteten sie zu St. Überall, danach betrachteten sie die sakralen Kunstobjekte, die überwiegend aus dem Mittelalter stammten.

Nach einer Weile verließen sie die Kirche und traten ins Freie. Inzwischen war doch wohl eine Stunde oder mehr vergangen, seit sie in die Basilika eingetreten waren. Nun wollten sie sich noch das Städtchen anschauen, mittelalterlich nett war es ja in der Tat. Frau Janitschek erinnerte sich an den Hauptplatz, den sie auf ihrem Weg zur Kirche überquert hatten. Dort war man gerade allem Anschein nach dabei, ein Stadtfest oder ähnliches zu starten. Auf einer Bühne hatten sich Techniker getummelt, Stände mit Speisen und Getränken wurden aufgebaut, Absperrgitter aufgestellt.

„Ich bin hungrig, lass uns dieses Festchen besuchen und etwas zu uns nehmen“, schlug Frau Janitschek vor. Ihr Mann nickte. Sie gingen ein kleines Stück in die Fußgängerzone hinein und hörten bereits nach wenigen Schritten Lautsprechermusik, die immer näher kam. Dann eine Stimme, die laut schallte und wohl einem Offiziellen gehörte. In getragenen Worten, die auf die Entfernung vorerst unverständlich blieben, hielt die Stimme offensichtlich eine Rede. „Bestimmt die Festeröffnung“, meinte Herr Janitschek, „ist wohl der Bürgermeister oder so Jemand.“

So war es auch.  Das Ehepaar bog um eine letzte Ecke und stand am Rand des Hauptplatzes, vor sich die Festfläche mit der Bühne, auf der in der Tat ein groß gewachsener Mann in ein Mikrofon sprach. „Ein Fest, oder …?“ Fragend wandte sich Herr Janitschek an einen der Umherstehenden. „Ja“, sagte der, „der Bürgermeister eröffnet gerade unser Stadtfest.“

Die beiden Bochumer gingen weiter auf die Bühne zu, kamen dem Redner näher – und schauten sich verblüfft und ungläubig an. „Mein Gott!“, flüsterte Frau Janitschek ihrem Mann zu, „ ich werde verrückt, das ist doch der Irre aus der Basilika…“




Die Geschichte der  St. Wendeler "Lindenau" und der "STARFIGHTERS"
(Diese Geschichte wurde mit Klarnamen geschrieben, sie ist authentisch)

Es stand in der "Saarbrücker Zeitung": die „Lindenau“ ist wieder eröffnet worden. Der wunderbare Beat- und Rock-Schuppen der fünfziger bis achtziger Jahre, der ganze Generationen von seinerzeit jungen Leuten in ihrem damals jungen Leben begleitet hatte, wurde wieder zum Leben erweckt. Cassius, eine St. Wendeler Lokalgröße, hatte die Idee, die gute, alte Tante „Lindenau“ wieder auf die Beine zu stellen und den neuen Jungen wieder eine musikalische Heimat zu geben.

Anfang der neunziger Jahre gaben die saarländischen Rockfans Norbert Küntzer (Rock-Beauftragter der Stadt Saarbrücken) und Roland Helm (SR) ein Buch „Saar Rock History“ heraus, das die Geschichte zahlreicher saarländischer Bands und ihrer lokalen Umgebung nachzeichnete.

Damals schrieb auch der Chronist die „Geschichte der Lindenau“ und ihrer wichtigsten Band, der „Starfighters“, auf und erhielt sie so der Nachwelt. „Lindenau“ heute und gestern – hier soll noch einmal die Geschichte dieses einzigartigen Musik-Lokals im nördlichen Saarland nachgezeichnet werden.

Inzwischen wurde ein zweiter Band der "Saar Rock History", der die Geschichte der saarländischen Rock-Szene von den 1990er bis zu den 2000er Jahren beschreibt, herausgegeben.

Man beachte: Der Text wurde 1990 verfasst!

Das Jahr 1964

Früher Mittwochabend, ein paar Stufen die Außentreppe hoch, quer durch’s Lokal, links die Treppe hinunter, auf halber Treppe eine enge, scharfe Wendung, noch ein paar Stufen. Aus halb geöffneter Doppelflügeltür schallt die bekannte, leicht näselnde Stimme: „…und eins, und zwei, und drei, und vier. Aber, aber, meine Damen! Etwas mehr Haltung, wenn ich bitten darf!“

Im Saal das gewohnte Bild. Vor jeder Längsfront zwei lange Stuhlreihen, Jungs und Mädels sitzen sich gegenüber, Pony-Frisur und Petticoat, korrekter Scheitel und Lackschuhe.

Zwischen den Geschlechterfronten klatscht Heinz Erhard in die Hände „… und eins und zwei, und alle klatschen mit.“ In der Tat, der Legenden umwobene Star aller nordsaarländischen Tanzlehrer –er war der einzige-  gleicht dem Lyriker, Nonsense-Philosophen und Schauspieler Heinz Erhard auf verblüffende Weise.

Theo Halberstadt, so heißt er mit bürgerlichem Namen, ist in seinem Element, stolziert vor seinen Schülerinnen und Schülern auf und ab, wischt sich imaginären Schweiß von der Stirn und gibt Kommandos, die nur zögernd befolgt werden. Die Stimmung unter den Tanzlehrlingen: Schulstunde, brav bis kichernd, albern, neugierig, verlegen.

Pause. „Cola für die Dame?“ Ein Teil des ohnehin geringen Taschengeldes geht für die Bewirtung der „Dame“ drauf. Das sei Anstand, sagt Theo. Und auch den müsse man bei ihm lernen, nicht nur Tanzen. Ende der Pause.

„Und die Herren machen Haufen, und die Damen treten rein“. Wer aus der Legion seiner Tanzschüler kennt ihn nicht, diesen Kernsatz Halberstadt’scher Tanz- und Anstandsschulung? Und steckt nicht auch ein wenig Philosophie in dieser Aufforderung, ein Portiönchen Lebenserfahrung? Sei’s drum, jedenfalls kommt der Spruch immer gut an.

Ende der Tanzstunde. Füßescharren, Stühlerücken, Getrappel auf der Treppe, ein paar verhaltene spitze Schreie, der Saal leert sich. Die „Herren“ bringen ihre „Damen“ nach Hause, auch das sei Anstand, sagt Theo. Und interessant und aufregend ist das allemal. So manche Hand am dargebotenen Arm verliert sich, geziert geduldet, in der „Dame“, die anstaltshalber nach Hause zu begleiten ist. Für Viele sowieso der schönste Teil des Tanzkurses.

Im leeren Saal räumt Theo Halberstadt seine Utensilien zusammen, der ewig plärrende Plattenspieler kommt in die Ecke, Rumba-, Marsch- und Walzerscheiben werden sorgfältig gestapelt.

Obenauf eine Platte „Let’s twist again“ von Chubby Checker.  Neumodisches Zeugs, für den gestandenen Tanzmeister entbehrlich, anders als Walzer und Tango, aber die Jungs und Mädels sind ganz wild darauf, und irgendwie muss man ja auch mit der Zeit gehen, tja, und dann das Geschäft …

Theo löscht das Licht, begibt sich nach oben ins Lokal, schließlich hat man sich sein Bierchen redlich verdient. Der dunkle Sal bleibt zurück, frische Luft strömt durch die gekippten Fenster ein. Später schließt der Wirt der „Lindenau“ ab.


Früher Samstag Abend, ein paar Stufen die Außentreppe hoch, hinein ins Lokal – stopp! Eine Menschenschlange drängt links zur Treppe hin, Lachen, aufgeregte Gesichter, Gesprächslärm, Drängeln, Schubsen. Langsam kommt die Treppe näher, auf halber Treppe eine enge, scharfe Wendung. Aus halb geöffneter Doppelflügeltür dringt Lärm, Stimmengewirr. Eine Elektro-Gitarre jault auf, Rückkopplungen lassen mit ihrem schrillen Pfeifen die Ohren schmerzen, ein paar dumpfe Töne von einem Schlagzeug.

„Test one – test two –that’s okay.“ Mikrophone werden eingepegelt. Inzwischen hat man die Tür erreicht, der Lärm wird lauter, der göttliche Lärm. Blauer Dunst quillt aus dem Saal.

„Einmal?“ Man zahlt, ein blauer Stempel drückt sich auf die Innenseite der Hand, einen Tag später der Nachweis für’s Dabeigewesensein.  „Weitergehen!“

Eine ganze Woche lang hat man sich auf diesen Augenblick gefreut. Bunte Lampen tauchen die kleine Bühne an der Stirnseite in farbiges Licht. Auf der Mini-Fläche drängen sich Musiker, Verstärker. Mikrofone brauchen Platz. Ein kleines Schlagzeug auf einem kleinen, erhöhten Podest: Base-Drum, Hänge- und Stand-Tom, Snare, ein Becken – that’s all. Englisch ist en vogue.

An den Wänden über der Bühne Pictogramme aus der Welt der Beat-Musik, ein laienhaft angefertigter Schriftzug „THE STARFIGHTERS“ an der Wand hinter dem Schlagzeuger. Gitarren werden gestimmt, die Technik wird getestet.

Die Technik: eine „Echolette“-Box samt Verstärker, zwei „Shure“-Mikrofone, „Klira“-Bass, „Höfner“- und „Klira“-Gitarre, „Sonor“-Schlagzeug. „Test one, test two – that’s okay“.

Tische und Stühle im Saal stehen eng – gut so, eng ist schön. Das Licht nicht so hell, schummrig – auch gut. Die Tanzfläche ist nicht sehr groß, man rückt zusammen, es wird eng – gut so, wie gesagt …

Jungs in weißen Hemden mit Krawatte, karierte Hosen, Bügelfalten. Andere im schwarzen Rollkragenpulli, enge Röhren-Jeans an den Beinen. Schmale Sonnenbrillen sind in, Zigarette lässig im Mundwinkel – man ist ganz Mann.

Mädels im Petticoat, hochgesteckte Turm-Frisuren, der Baby-Doll-Blick gut eintrainiert. Zwei, drei Akkorde auf der Gitarre, letzte Probe, der Abend kann beginnen.

„One, two, three, four” – die „STARFIGHTERS“ legen los.  Charly mit der rauchigen Stimme singt “Rock around the clock "- wirklich gut, klingt echt schwarz. „Mensch, der wird mal einer, der ist besser als das Original!“ Natürlich, jeder weiß das.

„Let’s twist again“, singt Pop. Die Tänzer bewegen sich wie Kieselsteine auf dem Rüttelsieb. Schweiß fließt, die Luft ist zum Schneiden dick, Gesichter strahlen, alles ist wunderschön.

Pop schlägt die Rhythmusgitarre, singt die Chorpassagen gemeinsam mit Charly. Sein schmales Gesicht hinter der großen Brille strahlt, Pop ist in seinem Element. Ruhig stehen kann er nicht, konnte er noch nie, er bringt Leben in die Bude.

Im Saal verlöscht das Licht, Schmusestunde. „Summertime“ spielt die Band, auch die letzten strömen nun auf die Tanzfläche. Wann sonst hat man die Gelegenheit, seine „Dame“ legal in aller Öffentlichkeit „legal“ zu knutschen.

Und dann der Clou, die Sensation des Abends. Eine fluoreszierende Lampe blitzt auf, verströmt ihr geheimnisvolles, weiß-blaues Licht in den Saal, lässt die Herzen der eng umschlungenen Tanzpaare wohlig erschauern. In der Dunkelheit leuchten die weißen Hemden der Jungs, die dunklen BH’s der Mädels leuchten durch die weißen Blusen, ab und an blitzen weiße Zahnreihen auf. „Summertime“ spielen die STARFIGHTERS.

Es geht auf Mitternacht zu. Die Stimmung kann nicht besser sein, auch der Alkohol hat seine Schuldigkeit getan. Das letzte Stück aus den „Standard-Songs of the STARFIGHTERS“ steht auf dem Programm. „Ghost Riders“ reiten durch die Nacht. Charly lässt sie auf seiner Solo-Gitarre galoppieren. Nicht jeder Ton sitzt, was soll’s, Mitternacht und jede Menge Bier im Bauch. Hansi erwischt seine Bass-Saiten auch nicht mehr so genau, sein ansonsten sorgsam gewelltes Haar hat sich aus der Form gestohlen. Nur Willie trifft sein Schlagzeug nach wie vor präzise, na ja, ist ja auch größer als eine Gitarre …

Zwei Zugaben, der Wirt gibt das Zeichen. „Schluss … und Tschüs bis zum nächsten Mal“. Pop macht die Absage, zieht das Kabel aus seiner Gitarre, lehnt sie an den Verstärker. Die Band sitzt an einem freien Tisch, man trinkt ein letztes Bier, versucht abzuschalten.

Bewundernde Blicke aus dem jungen Publikum, „Groupies“ wagen sich an den Tisch. „Toll wart ihr“. – „Ja?“ – „Ja, ehrlich!“ – „Okay“. – „Tschüß“. – „Tschüß“.  Anderswo war’s wilder.

Langsam leert sich der Saal, der Wirt öffnet die Fenster, dicker Rauch zieht ab. Die STARFIGHTERS packen ihre Instrumente zusammen, stecken die Gage ein. „Trinken wir noch Einen?“ Ja, man wird noch Einen trinken, man ist gut drauf.

Der Wirt löscht das Licht, steigt, die unvermeidliche Pfeife im Mundwinkel, die Treppe hoch. Der Saal bleibt dunkel zurück, frische Luft strömt durch die gekippten Fenster ein.

Später schließt der Wirt die „Lindenau“ ab.

Das Jahr 1990

Pop sitzt mit gegenüber. Sein nach wie vor schmales Gesicht steckt hinter einer großen Brille, ruhig sitzen kann er immer noch nicht, er bringt halt Leben in die Bude.

Wir wollen über die Geschichte der STARFIGHTERS und der LINDENAU reden, über die Geschichte der ersten und wohl bekanntesten Beat- und Rockband im nordöstlichen Saarland. Und über die Geschichte ihrer langjährigen Spielstätte, den Keller der gutbürgerlichen Speisegaststätte „Zur Lindenau“ in der St. Wendeler Schlachthofstraße (heute Beethovenstraße). Und über die Geschichte des Beat- und Rockbarden Pop, der seinem Musikerdasein bis heute –wenn auch in abgewandelter Form- treu geblieben ist.

Pop heißt mit bürgerlichem Namen Karl-Heinz Kunz, seinen jüngeren Bruder pflegte man „Mini-Pop“ zu nennen. Pop arbeitet als Pädagoge im Bereich der Lehrer-Fortbildung, was ihn fordere, wie er sagt. In seiner Freizeit widmet er sich der Hobby-Gärtnerei und natürlich seiner geliebten Musik. Ihn interessiert heute der Jazz mit seinen zahlreichen Spielarten und Varianten, nebenbei steht er nahezu jede Woche mit seiner Oldie-Band STILL CRAZY auf den Brettern. Doch, Spaß mache es immer noch, auch wenn man „Honky-Tonk woman“ schon zum tausendsten Mal gespielt hat.

Wie denn das mit den STARFIGHTERS alles begonnen habe, frage ich.

Tja, wie das halt so war, meint Pop, Baujahr 1946. Gemeinsam mit dem gleichaltrigen Schulfreund Charly Gräber habe man mit so etwa 14 Jahren wie viele andere auch für Rock’n Roll, Bill Haley, Elvis und die Spotnicks geschwärmt. Charly erhielt einige Stunden Klavier- und Saxophonunterricht.

Er entdeckte eines Tages auf dem Speicher eine alte Gitarre, gemeinsam brachten die beiden Schulfreunde das Instrument wieder in Schuss.

Das Rock’n Roll-Utensil war nun da, aber es war nicht „elektrisch“ – Stilbruch. Und außerdem konnte keiner der Beiden auf ihm spielen.

Wer die Idee dazu hatte, weiß Pop nicht mehr. Jedenfalls bauten sie aus einem alten Radiolautsprecher die Schwingspule aus, nahmen Schießdraht, Kaugummi und den Gummiring von einem Einmachglas hinzu – und fertig war der Tonabnehmer. Daniel Düsentrieb wäre ob solch genialer Schlichtheit vor Neid erblasst.

Man stöpselte die beiden Kabelenden in die Anschlussbuchse eines Radios, die Elektrifizierung des Saiteninstruments war perfekt. Und es funktionierte, aus dem Lautsprecher wimmerten tatsächlich Gitarrenklänge. Erfolg spornt an, beide erlernten autodidaktisch die Kunst des Gitarrenspiels.

Und wie kam die Band zusammen, wer ergriff die Initiative? Pop erzählt.

Hansi Lahnhäuser war ein Jugendfreund Frank Farians. Der spätere Produzent zahlreicher musikalischer Welt-Hits hatte Anfang der sechziger Jahre seine Band FRANK FARIAN UND DIE SCHATTEN gegründet und sich im Bereich der Stadt Neunkirchen einen Namen geschaffen. Ihm wollte Hansi es nachtun. Er besaß das notwendige Kleingeld und kaufte Gitarren, Schlagzeug, Mikrofone und eine kleine Verstärkeranlage. Den beiden damals Siebzehnjährigen Pop und Charly bot er an, in seiner neuen Band zu spielen. Mit Willi Zeyer kam ein ebenso junger Mann hinzu, der das Schlagzeug treffen konnte, die Band stand. Man nannte sich STARFIGHTERS, einfach so. Kein Programm, keine politische oder weltanschauliche Aussage stand hinter dem Bandnamen.

Pop erzählt weiter.

Der erste Auftritt ließ nicht lange auf sich warten. Im Januar 1964 bot Frank Farian seinem alten Kumpel Hansi Lehnhäuser an, mit den STARFIGHTERS als Gastgruppe bei einem SCHATTEN-Konzert im Neunkircher Pfarrheim aufzutreten. Großes Nervenflattern, Aufregung und am Ende ein rundum gelungener Auftritt mit viel Publikumsresonanz. Die Gruppe hatte sich einen Namen gemacht.

An Ostern 1964 dann der erste Auftritt in der LINDENAU. Pop macht eine Pause. „Kennst Du die Geschichte der LINDENAU?“ Nein, so genau nicht. Pop erzählt.

Hinter dem Namen verbirgt sich ein gutbürgerliches Restaurant mit einem großen Kellersaal und kleinen Nebenräumen. Angesehene St. Wendeler Bürger tranken dort ihren Schoppen, politische und unpolitische Vereine hielten ihre Sitzungen in den Nebenräumen ab. Die einheimische Tanzschule Halberstadt versuchte im großen Kellersaal, Generationen von Schülern Tanzfertigkeit und Anstand beizubringen. Ein „Modern Dance Club“ hatte bis 1963 sein Domizil ebenfalls im großen Saal, danach zog der Club aus.

Jimmy Bauer, ein junger St. Wendeler, etablierte anschließend in der LINDENAU einen „Snoby Dance Club“; während der Clubstunden wurden aktuelle Schallplatten gespielt, ab und an wimmerte jemand live auf der Gitarre zu den Musikkonserven.

Nach diesem kurzen Zwischenspiel fiel dem Wirt der LINDENAU die wohl beste und lukrativste Geschäftsidee ein: er trat selbst als Veranstalter auf.

Ab 1964 fanden regelmäßig an allen Samstagen, Sonntagen und Feiertagen Live-Musik-Abende mit wechselnden Bands im Keller des Restaurants statt. Bereits nach kurzer Zeit erwarb sich die LINDENAU im St. Wendeler Land und weit darüber hinaus den Ruf eines angesagten Beat- und Rockpalastes, der Veranstaltungsort blieb nahezu konkurrenzlos.

Amerikanische GI’s aus den Garnisonen um Baumholder und Birkenfeld waren Stammgäste, französische Soldaten aus dem in St. Wendel stationierten Kürassier-Regiment versäumten ebenfalls kaum einen Veranstaltungsabend. Beide Gruppen waren natürlich, zum Leidwesen und Ärger der einheimischen Jungmänner-Welt, hinter den St. Wendeler Mädchen her. Das barg Zündstoff.

Ich erinnere mich noch gut an eine solche Situation in der LINDENAU, so um das Jahr 1966. Zwei GI’s stiegen zu vorgerückter Stunde und mit kräftigem Alkoholpegel auf einen Tisch, griffen in ihre Taschen und warfen Dollars in Scheinen und Münzen unter’s Volk, besonders in Richtung der Franzosen. GI’s verdienten wegen ihrer harten Währung ausgezeichnet, konnte im wahrsten Sinn des Wortes mit Geld um sich werfen. Französische Kürassiere erhielten seinerzeit 40 Pfennige Sold pro Tag. Schon deshalb kamen oft genug Spannungen zwischen den Freiheitsverteidigern beider Nationen auf.

So auch an jenem Abend. Die Franzosen waren sauer, die Amis stolz auf ihre gelungene Provokation. Am Ende des Abends kam, was kommen musste. Vor der LINDENAU gerieten sich die Helden in die Haare, Blut floss und Köpfe wurden verbeult. Der Rest ist schnell erzählt. Amerikanische und französische Militärpolizisten, an solchen Abenden immer in der Stadt präsent, griffen sich ihre Schäfchen und vermöbelten sie zur Abrundung der Fete nochmals gründlich.

Zurück zu Pop und der Geschichte der LINDENAU.

Die STARFIGHTERS spielten ab Ostern 1964 etwa ein halbes Jahr im Beat-Keller des Restaurants, dann pachtete Hansi Lehnhäuser die St. Wendeler Gaststätte „Feierabendhaus“ am Tholeyer Berg. Das Haus verfügte über einen größeren Saal, was lag also näher, als mit der eigenen Band umzuziehen und in die eigene Tasche zu wirtschaften. Gesagt – getan, das „Feierabendhaus“ wurde für etwa eineinhalb Jahre zum Spielort der STARFIGHTERS.

Die gute alte LINDENAU sah inzwischen eine neue Beat-Gruppe, die an den Wochenenden auftrat, die SYNCOMS. Fünf Schüler des Ottweiler Gymnasiums um Bandleader Dieter „Didi“ Uhl hatten sich zu einer Band formiert, die sich mit ihren Beatles-, Beach-Boys- und Rattles-Titeln die Herzen der LINDENAU-Fans im Sturm eroberte.

Nach Meinungsverschiedenheiten mit dem Wirt zogen die SYNCOMS Ende des Jahres 1965 in den St. Wendeler Saalbau um.  Dort spielten sie mit viel Erfolg an den Wochenenden noch einige Zeit, eine echte Konkurrenz zu der LINDENAU.

Nach dem Weggang der Melody-Band in den Saalbau kamen die STARFIGHTERS zurück an ihre alte Wirkungsstätte, allerdings in veränderter Besetzung. Hansi Lehnhäuser und Willi Zeyer waren ausgestiegen, den Bass zupfte nun Manni Burgholz („der schöne Manni“), und auf die Felle schlug Bernd Neuser, „Schnibbel“ genannt.

Eine wilde Zeit brach an, aus der einige gereift, einer jedoch sehr gereift, hervor ging. Bernd „Schnibbel“ Neuser hat sich heute als Seelsorger der neuapostolischen Kirche der konkreten Entwicklungshilfe vor Ort in einem lateinamerikanischen Land verschrieben.

Bis zum Jahr 1970 blieben die Mannen um Charly und Pop der LINDENAU treu, allerdings in ständig wechselnden Besetzungen.

Mit Klaus Lambert stieß 1966 ein junger Mann zur Truppe, der ihr in den darauf folgenden Jahren nachhaltig seinen Stempel aufdrückte. Klaus hatte Stimme, sah gut aus. Er sang sich rasch in die Herzen seiner –wen wundert’s?!- überwiegend weiblichen Fans. Mit ihm stieg die Qualität der „Sternenkämpfer“ deutlich an.

Ich staune, Pop sprudelt die ganzen Facts aus sich heraus, als wär’s gerade gestern passiert. Er legt ein Fotoalbum vor. Vier Jünglinge mit Gitarren vor dem Bauch, weiche Gesichtszüge, Typ „Mamas Darling“. Eines der ersten STARFIGHTER-Fotos, Fastnacht 1964. Ein anderes, die Jungs mit Pilotenhelmen auf dem Luftwaffenstützpunkt Pferdsfeld vor einem echten Namensvetter, der dann in den Folgejahren so häufig vom Himmel fiel. Charly, Pop & Co. Blieben auf dem Boden.

Pop greift den Faden wieder auf.

„Schnibbel“ packte 1966 sein Schlagzeug ein, der frühere SYNCOMS-Drummer Dieter Uhl das seine für eine kurze Zeit aus. 1967 folgte ihm Albert „John“ Ebner, der jedoch schon ein Jahr später unbedingt zur Verteidigung des Vaterlandes benötigt wurde. Sein Nachfolger an der Schießbude wurde der Saarlouiser „Egges“, der allem Anschein nach keinen vollständigen Namen besaß. Durch seinen Einfluss gewann die Band professionelle Qualitäten, er besorgte auch während der Semesterferien Auftritte in amerikanischen NCO-Clubs. Anfang 1970 übernahm der St. Wendeler Jacki Hoff die Schlagstöcke, er blieb bis zum Ende der Band an diesem Platz.

Im gleichen Jahr stößt mit dem musikalischen Allrounder Jacky Wahl aus Alsfassen ein Impuls gebender Multi-Instrumentalist zur Truppe, der von der Gitarre über die Trompete bis hin zur Hammond-Orgel nahezu alle gängigen Instrumente beherrscht. Die Hinzunahme von Tasteninstrumenten erweitert die musikalischen Möglichkeiten der STARFIGHTERS erheblich. In dieser Zusammensetzung spielt die Band in der LINDENAU bis zu ihrer Auflösung im Jahr 1970.

Neben der Hausband traten auch andere Gruppen in dem Beat- und Rock-Keller auf. Hatten die STARFIGHTERS an einem Wochenende einmal einen Auswärtstermin, verpflichtete der Wirt eine andere Band. Mittlerweile konnte er sogar auswählen. Nach und nach etablierten sich etliche neue Bands in der Szene, sie waren alle scharf auf einen Auftritt in der berühmten LINDENAU. Denn ein solcher Gig konnte eine junge Band auf einen Schlag aufwerten und bekannt machen.

Pop zählt einige Gruppen auf: BLACK CATS aus Trier, eine Soul-Band mit zwei hervorragenden schwarzen Sängern, SNOBS und BLACKBIRDS, EARLS und R.S. RINDFLEISCH. Aus letzterer ging Hermann Rarebell, der Schlagzeuger der SCORPIONS, hervor. Auch amerikanische Gospel-Gruppen aus dem Raum Baumholder traten des Öfteren auf.

Mit der Auflösung der STARFIGHTERS ging auch die Bedeutung der LINDENAU für die nordostsaarländische Live-Szene der Beat- und Rockmusik zurück. Eine Zeit lang spielten diverse Bands ihre Live-Konzerte, eine echte Hausband als Nachfolger von Pop, Charly & Co. Konnte sich jedoch nicht etablieren.

Live-acts im großen Kellerraum der LINDENAU wurden immer weniger, der Wirt suchte nach einem besseren Konzept. Und er fand es.  Bis zum heutigen Tag [1990] wird die legendäre LINDENAU als Disco-Club geführt. An die Stelle jaulender Gitarren und galoppierender Geisterreiter trat discologischer Eintopf.

Was soll’s, times are changing. Die Kids sind’s heute zufrieden, der Wirt ebenso, also sind Alle zufrieden. Und haben wir es damals nicht gehasst, wenn uns die eigenen Eltern ewig nervten mit ihren alten Zeiten, die angeblich soviel besser waren?

Also tschüß du guter, alter LINDENAU-Keller, es war schön und aufregend, einfach toll in den wilden sechziger Jahren.

Pop schenkt mir Bier nach, wir stecken mitten in der Beat- und Rock-Vergangenheit. „Weißt Du noch, wie der Schnibbel …?“ „Ach Gott ja, an den Porgy habe ich gar nicht mehr gedacht“. Und so weiter…

Wir kommen zurück auf die Geschichte der STARFIGHTERS. Im Jahr 1968 startete der Saarländische Rundfunk den „Hallo-Twen-Wettbewerb“, benannt nach der erfolgreichen Rundfunksendung des Moderatorenstars Manfred Sexauer. Charly, Pop und Freunde gewannen vor SNOBS und BLACKBIRDS, sie ergatterten sich damit den offiziellen und Prestige trächtigen Titel der beliebtesten Band des Saarlandes.

Das hatte Folgen, positive natürlich. Im gleichen Jahr wurden die STARFIGHTERS als Vorgruppe bei Auftritten der TREMOLOES und Achim Reichels WONDERLAND verpflichtet. Solche Gigs brachten Punkte, durfte man doch gemeinsam mit großen Namen in der renommierten Saarlandhalle spielen.

Ein Kapitel der Bandgeschichte, ein erfolgreiches und dennoch tragisches Kapitel, soll nicht übergangen werden. Pop erinnert sich.

1969 übernahm der angehende Journalist und Rock-Fan Klaus-Jürgen Weber aus St. Wendel das Band-Management. Jürgen, wie er gerufen wurde, war der geborene Organisator und Medienmensch. Ihm war der Blick gegeben für Notwendigkeiten, für das gesamte Umfeld, ihm fielen immer wieder neue PR-Ideen ein, der Tatendrang war ihm angeboren.

Jürgen trat nach der Mittleren Reife am Gymnasium Wendalinum ein Volontariat bei der Saarbrücker Zeitung an. Seine quirlige und lebhafte Art, seine ständige Neugierde, seine Kontakt- und Kommunikationsfreudigkeit prädestinierten ihn für den Beruf des Journalisten. Jürgen war mit Leib und Seele Journalist, er galt als großes Talent, die Saarbrücker Zeitung setzte große Hoffnungen auf ihn.

Der Pressemann brachte Professionalismus in die STARFIGHTER-Truppe. Er sorgte für Auftritte seiner Schützlinge im Regionalfernsehen, er brachte Demo-Bänder in Rundfunksendungen unter. In seiner Zeitung erschienen immer wieder Berichte von Auftritten,  Jürgen sorgte für Engagements der Band bei Festivals auch außerhalb des Saarlandes. So gewannen die STARFIGHTERS das Saargemünder Beat-Festival 1969, im darauf folgenden Jahr nahmen sie an dem renommierten Kölner Rock-Festival teil.

Jürgen managte, Jürgen knüpfte Kontakte, Jürgen wirbelte. Und die Band profitierte in vielfacher Weise von seinem Engagement.

Dann geschah das Unbegreifliche, das uns alle damals wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf. Wir konnten es nicht fassen, wir wehrten uns gegen die Wahrheit: Jürgen ist tot.

Quirlig, voller Leben und Kraft, engagiert, neugierig – tot?

Wir mussten uns damit abfinden. Jürgen verunglückte, dreiundzwanzigjährig, tödlich mit seinem Wagen auf der Heimfahrt von einem Pressetermin. Er starb bei seiner Arbeit.

Pop grübelt. Jürgen Weber balanciert, die Beine gespreizt, auf dem St. Wendeler Ortseingangsschild, er lacht über das ganze Gesicht – Lebensfreude pur. „Das Foto stammt von Ostern 1970, wir kamen gerade aus Köln zurück. Das Rock-Festival, du weißt ja.“ „Jürgen war einfach ein feiner Kerl, ein guter Mensch, rundherum“. Pop sagt es ohne Pathos.

Ein paar Seiten weiter in dem alten Fotoalbum. Pop, langer, gewellter Haarschopf, an der Gitarre voll in Aktion. Rechts von ihm verliert sich die Base-Drum eines Schlagzeugs in den Bildrand. Der Schriftzug „…odoma“, das „S“ fehlt.

„Sodoma“?

Richtig, SODOMA, die Nachfolgeband der STARFIGHTERS. Denn die gibt es seit 1970 nicht mehr. Klaus Lambert, Sänger und Bassist der Gruppe, war ausgestiegen. Klaus hatte ein Jahr zuvor mit den STARFIGHTERS in Luxemburg einen Schallplattenvertrag gewonnen und dabei internationale Luft geschnuppert. Ihm lag der harte Rock nicht so sehr, er mochte lieber Melody Rock und Popsongs. Klaus sah die Chance zur Solokarriere, so versuchte er –Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste- zweigleisig zu fahren.

Dazu Pop: “Diese Starambitionen verkrafteten die übrigen STARFIGHTERS nur eine kurze Zeit.“ Man beschloss, die Band endgültig aufzulösen.

Mit der aus aller Herren Länder bunt zusammen gewürfelten Truppe FAMILY TREE, einer Art Les-Humphries-Verschnitt, versuchte Klaus, sich einen eigenen Namen und Karriere zu machen.

„John Coller“ – so nannte sich Klaus Lambert nun, nachdem er es eine kurze Weile mit „Kid Colbert“ versucht hatte, John Coller hatte mit seinen „Alleingängen“ (Pop) der STARFIGHTER-Truppe den endgültigen Absturz beschert. Im Grunde war die Auflösung logisch: sechs gemeinsame Musikerjahre sind eine lange Zeit, man droht in Routine zu erstarren, musikalische Weiterentwicklungen sind kaum noch möglich.

Also, Träne ins Knopfloch, Trauerflor um den Gitarrenhals, Ende des Kapitels THE STARFIGHTERS.

Die musikalische Abstinenz währte für die meisten Bandmitglieder jedoch nur kurze Zeit. 1971 gelang, wie sich noch zeigen sollte, eine erfolgreiche Fusion mit den Trümmerstücken einer Homburger Band, den COPINS. Beide Bands schlossen sich zu der Gruppe SODOMA zusammen. Ihr gehörten auch wieder Pop, Charly John Ebner und John Coller an.

„Blood, Sweat & Tears“ und „Chicago“ setzten mit ihren ausgefeilten Bläsersätzen neue Maßstäbe, die Rockwelt lag den neuen Göttern zu Füßen. SODOMA schließt sich dem neuen Jazz-Rock an.

Für viele von uns nordöstlichen Saarländern machte die Band ein Stück Identifikation mit neuen Vorstellungen, neuen Zielen und neuen Werten möglich. Auch wenn die Jungs um Pop und Charly es nie wollten: die STARFIGHTERS wirkten durchaus politisch.

Sie sangen die neuen Songs, deren Texte häufig gegen die verkrusteten und antiquierten Moral- und Wertvorstellungen der meist konservativen Elternhäuser angingen. Sie erzeugten mit den harten und schrillen Rockklängen das Gefühl einer berechtigten Gegenwehr bei den Jugendlichen der sechziger und siebziger Jahre. Sie drückten mit E-Gitarren und hartem Schlagzeug-Beat das vorherrschende Gefühl der Jugend aus: „Wir haben ein Recht darauf, auf unsere Art zu leben!“

Pop fragt: „Weißt Du nun Alles?“

Nein, noch nicht Alles. Ich möchte gerne wissen, wie es mit dem Musiker Karl-Heinz Kunz, genannt "Pop", musikalisch weiter ging.

Ab Ende 1970 zupft Pop den Bass bei SODOMA, John Coller singt, Charly bläst in’s Saxophon, John Ebner bearbeitet Felle und Becken. Zu den vier ehemaligen STARFIGHTERN haben sich zwei Mitglieder der Homburger Formation LES COPAINS hinzugesellt, Georg „Schorsch“ Decker aus Wolfersweiler vervollständigt die Truppe; von ihm wird noch zu berichten sein. „Halt, einer fehlt noch: der legendäre „Marxe Sepp“ spielte Trompete.“ Pop denkt an Sepp, grinst. „Das Thema wäre gut für einen ganzen Abend …“

SODOMA spielt gute Musik, hat eine ganze Reihe von Auftritten. Alles gut, alles schön, aber die Finanzen. Mit Jazz-Rock ist halt nicht die große Kohle zu machen.

Man setzt sich zusammen, diskutiert Alternativen. Es gibt nur eine, wenn man Geld verdienen will: Kommerz. „Furchtbar!“ stöhnen die Einen, die Anderen zucken die Achseln: „Was soll’s?“

Der Schriftzug SODOMA wir überpinselt, ein neues Logo findet seinen Platz: ORCHESTRA JOHN C. „C“ steht für „Coller“. Sechs Mitstreiter aus SODOMA-Zeiten verbleiben, das musikalische Multitalent Jackie Wahl bläst Trompete.

Das Bühnen-Outfit der Jungs war einheitlich und schmuck, ein Jeder trug die elegante Fliege. Musste man auch, man war eine Tanz- und Show-Band. Pop zupfte Bass und verstärkte den Chor, John Coller sang solo und machte die Show für’s Volk. Und so wirkten sie bei Gala-Abenden, Tanzveranstaltungen und anderen edlen Festen und verdienten sich das angepeilte Geld. Für’s Studium die Einen, für die Aufrechterhaltung des Wirtschaftskreislaufs die Anderen.Die Band reiste quer durch die Republik und begleitete Schlagerstars und –sternchen bei deren Auftritten. Wer kennt noch „Ramona“?!

„Die Harmonie ging flöten, St. Wendels bekannteste (und teuerste) Kapelle ist auseinander gebrochen. Wie man hört, sollen die Auseinandersetzungen innerhalb der Band ziemlich ‚handfest’ gewesen sein.“ Das schrieb die Saarbrücker Zeitung im Oktober 1975. Das ORCHESTRA JOHN C. hatte aufgehört zu existieren. Zwar machte John Coller bis 1979 mit der Heusweiler Gruppe THE TERRYMEN unter dem alten Firmennamen weiter, ein echter Erfolg stellte sich jedoch nicht wieder ein.

Und Pop? Kein Problem – Wechsel.

Vier ernste Gesichter blicken aus der Fotografie, weißer Anzug, schwarzes Hemd, weiße Fliege, coole Lässigkeit. „Sie suchen für Ihre Tanzveranstaltung eine Spitzenband? Haben wir: PEPPERLAND“!

Pop zupft den Bass, John Ebner bedient das Schlagzeug, Schorsch Decker spielt Gitarre und sein Bruder Stefan greift in die Tasten. Man spielt im Festzelt, im Saal und im Freien. Man spielt „Stimmungs- und Tanzmusik“, aber auch „Schlager und dreistimmiger Chorgesang gehören zum Repertoire der jungen Band“, weiß der Chronist der Saarbrücker Zeitung zu berichten.

1978 ist die Band nicht mehr ganz so jung – und am Ende. PEPPERLAND geht auseinander.

Und Pop? Kein Problem – Wechsel.

Mit Schorsch Decker, inzwischen Inhaber eines florierenden Musikgeschäfts in Oberlinxweiler, gründet er ein Jahr später das SCHORSCH DECKER SEXTETT. Mit dabei: Pierre Maurer, Horst Heinz, Peter Decker und Lucky Dörrenbächer. Nach zwölf Monaten nennt sich die Combo GEORG DECKER SELECTION, und ihr Motto heißt: „Sie machen Party – wir die Musik.“ So jedenfalls die seinerzeitige Eigenwerbung.

Wieder ein Jahr später. Pop hat keine Lust mehr, Musik bei Parties zu machen, er steigt aus.

Kein Problem – Wechsel?

Wechsel ja, aber diesmal gründlich. Pop hat seine neue alte Liebe (wieder-)entdeckt, den Jazz. Mit verschiedenen Formationen -sie heißen STUDIO JAZZ VEREIN, DIZZY DIXIE DROLLIES und STUDIO JAZZ QUARTETT- jazzt Pop durch die Szene. Und bis heute ist er dem Jazz treu geblieben.

Eine vorbildliche Ehe mit dem Jazz, keinerlei musikalische „Seitensprünge“? „Na ja“, meint Pop, „so vorbildlich nun auch wieder nicht“. Man kann halt die guten alten Beat- & Rock-Zeiten wirklich nicht so einfach abklemmen. STILL CRAZY heißt seit über sechs Jahren seine Band, mit der er durch die St. Wendeler Lande zieht. STILL CRAZY, immer noch verrückt. Ein beziehungsreicher Bandname?

Pop nickt. „Irgendwie schon, man kommt halt nicht los von der alten Musik“. Pop kann nicht anders. Der Vollblutmusiker Karl-Heinz Kunz wird sich auch in Zukunft halbe und ganze Nächte um die Ohren schlagen. Auf der Bühne, Bass vor’m Bauch, schmales Gesicht, die große Brille durch moderne Haftschalen ersetzt. Den Mund dicht am Mikro: „Test one, test two, that’s okay“.

Okay.


Der Erziehungsversuch

Neulich war ich in einem großen St. Überaller Supermarkt zum Einkaufen. Etwa so um die Mittagszeit. Das Kaufhaus war, der Tageszeit entsprechend, nicht allzu dicht gefüllt, das ansonsten dort vorherrschende Gedränge mit einem adäquaten Geräuschpegel war recht gering. Anders ausgedrückt: man verstand die Gespräche der Kunden im Gegensatz zu Zeiten des Hochbetriebs ganz gut.

Eine junge Frau hielt ihren kleinen Jungen an der Hand, schlenderte mit ihm langsam durch die Regale und schaute sich die Warenauslage an. Der Kleine kaute mit vollen Backen  auf einem Brötchen und hielt den Rest der Backware in seiner freien Hand.  Dabei drehte sich der Knirps laufend ein wenig um die eigene Achse, schaute ständig nach hinten und erschwerte so seiner Mutter die Regalinspektion. Die beugte sich ein wenig hinab zu ihrem Jungen und bedeutete ihm im herrlichsten Nordsaarländisch: „Dau sollschd net imma so no hinne gugge, do kamma jo nimmi gescheit no vore gehn.“

Der Kleine, der wohl nicht verstanden hatte, was die Mutter von ihm wollte, sah sie fragend an und fasste sein Nichtverstehen in die saarländische Kurzform einer klassischen Fragestellung: „Hä?“ Darauf die Mutter, die wohl ihrer Elternpflicht auf eine ordentliche Erziehung ihres Söhnchens, in diesem Fall auf eine ordentliche Spracherziehung nachkommen wollte: „Dat hääßt net „Hä“, dat hääßt „Watt“““.

Ich glaube, der Kleine hat genickt.


Auf die Lanze, fertig, los

Na also, es funktioniert ja doch noch, das Prinzip Grouilion. Nachdem es aus der Zitty über Wochen hin nichts zu vermelden gab, jedenfalls nichts Wesentliches, trompeten nun wieder die Posaunen durch Stadt und Land. Der Chronist, und mit ihm viele Einheimische, fragten sich bereits, ob die stolz geschwellte Brust des St. Überaller Stadtoberhauptes über die Zeit möglicherweise erschlafft sei, oder ob die Muße der seichten Unterhaltung ihre Kuss-Orgien mit Meister Grouilion und den Seinen wohl eingestellt habe.

Keine Hochkarätigkeiten, keine europaweiten Einmaligkeiten,  keine Sensationen und nie Gesehenes generierten sich hinter der hohen Stirn des Meisters aller St. Überaller Bürger. Nichts von epochaler Bedeutung geschah mehr in den letzten Wochen und Monaten im Städtchen.  Da wurde einmal die Bronzeplastik von „Lenchen“ Demuth, der Haushälterin von Karl Marx, aufgestellt. Mit einem kräftigen Bäuchlein, das den Betrachter an ihre Schwangerschaft erinnern soll. Fräulein Demuth war angeblich ihrem kommunistischen Patron in nicht nur einem Lebensbereich zu Diensten gewesen, berichteten Zeitgenossen

Die Haushälterin entstammte einer St. Überaller Tagelöhnerfamilie, ihr sollte, wie auch anderen berühmten Söhnen und Töchtern der Stadt, mit der Skulptur ein Ehrenmal gesetzt werden. Die schwarze Stadtratsmehrheit hatte sich wohl nach ihrem entsprechenden Beschluss dreimal bekreuzigt; einer Kommunistin ein Denkmal spendieren?

Der Heilige Überall und die Herzogin Luise von Sachsen-Coburg-Saalfeld waren als berühmte Einheimische bereits mit einer Plastik bedacht worden, einige weitere Kandidaten stehen auf der Warteliste.

„Ich glaab, der Grouilion schafft an seinem eischene Denkmol. Wann der mit seiner Birjermeischderei ferdisch is, will der bestimmt aach so e Figur von sich selbscht hann“, meinte ein Thekensteher beim Stammtisch im Roten Ochsen. Diese Variante war dem Chronisten noch nicht eingefallen, aber Einiges sprach durchaus für eine derartige bürgermeisterliche Denkweise.

Dann gab es da noch einen Jedermann-Marathonlauf, nun ja, auch keine allzu pfiffige Angelegenheit. Jede größere Stadt richtet heutzutage ein derartiges breitensportliches Angebot aus. Ansonsten passierten keine besonderen Dinge in letzter Zeit.

Aber nun, aber jetzt,  wie Donnerhall schallt der Ruf durch Stadt und Land, tönen die städtischen Herolde landauf,  landab: es wird wieder Außergewöhnliches, Außerordentliches -beinahe wäre dem Chronisten doch hier das Wort „Außerirdisches“ entschlüpft- in St. Überall, der Geburtsstätte der Kreativität, geboten.

Sie werden aufeinander prallen, die Panzer, die Schwerter, die Lanzen  und die blechbewehrten Schienbeine kämpfender Rittergestalten. Schnaubende Rosse werden ihre donnernden Hufe in den Boden des Kampfplatzes graben, zustoßende Lanzen werden Gegner aus dem Sattel fegen und scharfe Schwerter unbarmherzig auf eiserne Schilde eindreschen.

Wow!  Kleiner geht’s nicht, nicht in St. Überall. Trotz aller Unkenrufe, der Rathausgewaltige oder einer der zahlreichen Bürgermeisterflüsterer hatte wieder einmal eine grandiose Idee. Wohl aus dem Umfeld des städtischen Archivs wurde der ansonsten nicht gerade geschichtsbewusste Bürgermeister darüber informiert, dass sich im Jahr 2012 zum fünfhundertsten Mal der Tag jährt, an dem Kaiser Maximilian I., auch der „letzte Ritter“ genannt, die Stadt St. Überall während des Reichtages in Trier besuchte.

Was lag da näher, als den frühen Vorfahren von Don Quijote ruck-zuck zu vereinnahmen und ihm zu späten Ehren ein waschechtes Ritterturnier zu spendieren. Aber keines dieser funzeligen 0-8-15-Turniere, auf denen sich „Ritter“, Blecheimer auf dem Kopf und Kohlenkästen als Schienbeinschutz, mit Gummilanzen und Holzschwertern auf’s Blech klopfen. Nein, hier musste das größte, schönste und teuerste Ritterturnier der Neuzeit her. Neuzeit meint: ab dem Jahr 1982, der Inthronisierung des Ritters von der mächtigen Gestalt, Nickel Grouilion. Napoleon hatte ja schließlich auch seine eigene Zeitrechnung ins Leben gerufen…

Also verkündete das Tageblatt wie auch die städtische Webseite: „Die besten Wettkämpfer der Welt -sie kommen von drei Kontinenten-  treffen in ihrer Gesamtheit in St. Überall zum ersten mal aufeinander, um sich in einem Wettbewerb der Stärke, Ehre und reiterlichen Meisterschaft zu messen und den weltbesten ritterlichen Turnierkämpfer unserer Zeit zu bestimmen.“ Nichts weniger als dies.

Authentisch soll es werden, mit scharfen Schwertern wird gekämpft, eisenharte Lanzen mit Stahlspitzen werden sich in Schild und Harnisch des Gegners bohren. Edelste Rösser aus der Fürstlichen Hofreitschule in Bückeburg mit dem Diplom  „haute école dressage“ wurden eigens für dieses Turnier geschult; die Viecher verlangen, gesiezt zu werden.

Bückeburg? Kennt doch Jeder.

Also werden demnächst die wilden Ritter authentisch über die Wallstatt auf einem ausrangierten Fußballplatz toben. „In dieser Zahl gab es in jüngerer Vergangenheit weder in Übersee noch in Europa je eine öffentliche Veranstaltung“, erfährt man im Flyer der Stadt. Und als Krönung: „In dem geplanten zahlenmäßigen Umfang dürfte das in St. Überall stattfindende Melée [so nennt man in Ritterkreisen das Waffengetümmel, der Chronist] weltweit keine Entsprechung finden“.

Na endlich, da ist er wieder, der lange entbehrte Superlativ: „Weltweit einmalig samma“, würde Herr Beckenbauer formulieren, "wetweit einzigartig", fabulierte das stets applausfreudige Tageblatt.  „Weltweit einmalig“ gibt es nun wahrlich nicht für eine Handvoll Kleingeld. 400.000 Euro soll es kosten, berichtete Grouilion dem Tageblatt. Bezahlen tun’s natürlich wie immer die Bürger der Stadt, mit ihren Steuern, Gebühren und Abgaben. Damit es nun nicht gar so grässlich teuer wird, hat man sich im Rathaus saftige Eintrittspreise einfallen lassen. Wen es ins ritterliche Lager zieht, muss für die Tageskarte 30 Silbertaler berappen, das dreitägige Wochenendticket gibt’s schon für deren günstige 75.

In diesem Sommer wird also in St. Überall die Parole lauten „Lasset die Rittersleut zu uns kommen, denn ihrer ist der Tummelplatz“. Tagträume wirbeln dem Chronisten durch den Kopf, anarchische Träume, die man im Traum ausleben darf, denn es sind ja Träume.  Und so träumte der Chronist, mitten ins Rittergetümmel, mitten in das Gewimmel von Schwertern, Harnischen und Schilden senkte sich vom Himmel herab langsam ein riesiger, ungeheuer starker und unsichtbarer Magnet, gehalten von der starken Hand des Erzengels Michael …



Als der Heilige Überall seine Stadt besuchte


„Nun, dann wollen wir mal“, murmelte er vor sich hin. Er wusste zwar noch nicht wie, aber auf irgendeine Weise musste es ja funktionieren. Schließlich hatten es Pirmin, Maria und andere Kollegen auch geschafft. Aber der Wille war das Eine, gewusst wie das Andere.

Einen der zahlreichen Heiligen, die schon einen Kurzurlaub auf der Erde hinter sich hatten, wollte er nicht fragen, das hätte sein irischer Stolz nicht zugelassen. Sich bei Gottvater direkt kundig zu machen, schien ihm der Anlass zu gering. Der hatte wahrlich Besseres zu tun, musste beispielsweise ohne Unterlass versuchen, den irdischen Politikern Verstand, Übersicht und Urteilsvermögen einzutrichtern, eine Sisyphusarbeit, die nie ein Ende fand.

Doch in seinem irdischen Leben hatte Sankt Überall gelernt, sich gegen Widerstände durchzusetzen, ganz gleich, ob es sich um einen renitenten Schafsbock handelte oder um die Launen seines Gutsherrn. Iren hatten nun einmal harte Schädel, das blieb so bestehen, mit oder ohne Heiligenschein.

So um die 1600 Jahre waren es nun her, dass der Heilige nach seinem segensreichen Wirken auf britischer und saarländischer Erde, nach vollbrachten Wundertaten und unzähligen Heidenbekehrungen das Zeitliche gesegnet hatte, in seine Lade gelegt worden war und in den ewigen Himmel aufstieg.

Die Jahrhunderte hatte er seither mit Lobpreisungen und Hosianna-Gesang verbracht, so wie es sich halt für einen Heiligen gehörte. Er besaß eine sehr schöne Stimme, der allerdings noch die raue irische Trinkliederkehle anzuhören war. Jedenfalls klangen seine Jubellieder deutlich melodischer als das furchtbare Getöse seines Himmelsnachbarn Alois, das jener wohl unter dem Begriff „Gesang“ einordnete.

1600 Jahre lang kam bei Überall keine Langeweile auf, kein Gähnen drang aus seinem Mund. Ihn zog es auch nicht auf die Erde zurück, wie es immer mal wieder den einen oder anderen seiner himmlischen Kollegen anwandelte. Er war zufrieden, im gemischten Chor der Heiligen seine Stimme zur Lobpreisung der Trinität beisteuern zu können.

In letzter Zeit aber ertappte sich Überall bei dem Gedanken, wieder einmal auf der Erde zu wandeln, einmal an seiner alten Wirkungsstätte nachzusehen, wie es denn dort heute ausschaute. Er war mit der Zeit doch neugierig geworden, eine klitzekleine Untugend, die aber von den Oberen stillschweigend geduldet wurde. Heilige waren auch nur Menschen.

Seine Neugier wuchs, und irgendwann ging er zu Petrus, füllte das dafür vorgesehene Formular aus und erhielt problemlos seine Venia descendendi; im Himmel sprach man nämlich, wenn es amtlich wurde, ausschließlich Latein.

So weit, so gut.

Nun stand er da, hatte seinen Erlaubnisschein in der Tasche, kannte aber das Procedere nicht, um im Sprachbild zu bleiben. Da kam ihm eine Idee. Hatte nicht vor einiger Zeit sein alter Freund Pirmin, nachdem er von einem Kurztrip aus Hornbach zurück gekommen war, so etwas geäußert wie „…hineinfahren ist ja nicht nur des Teufels, obwohl ich das immer dachte“? Überall kratzte sich am Kinn, momentan war er noch reichlich ratlos.

Hineinfahren? War dies das Zauberwort? „Könnte sein“, dachte er. Er schaute durch die für Menschen unsichtbaren großen Sphärenwolken auf die Erde. Eine ganze Menge an Möglichkeiten kam ihm in den Sinn. Hineinfahren – auf die Erde? Vielleicht in einen Schafsbock? In ein Gebäude, gar in einen Menschen?

„So geht’s nicht“, murmelte Überall, „am schnellsten komme ich wohl weiter, wenn ich erst einmal zur Erde hinab wandele.“ Und so wandelte er dann hinab. Einer alten Gewohnheit folgend war sein Ziel das Tälchen am nordöstlichen Rand seiner alten Wirkungsstätte. Dort hatte er sich seinerzeit eine kleine Gebetsstätte und eine ebenso kleine, karge Hütte gebaut, dort hatte er mit den ihm anvertrauten Schafen gehaust. Wohnen konnte man es nicht nennen.

Mein Gott, hatte sich alles verändert, Überall stand stumm vor Staunen. War das noch seine alte Heimat? Anstelle seiner Gebetsstätte wuchs eine in seinen Augen voluminöse Kirche in die Höhe, innen fürstlich ausgestattet. Gold und bunte Farben gab es reichlich, staunenswerte Schnitzereien erzählten seine eigene Geschichte. So hatte er sich das alles nicht gedacht. Auch den Brunnen, aus dem früher seine Schafe tranken, gab es noch. Aber wie sollten die Tiere heutzutage dort trinken, zur Wasserstelle führten furchtbar enge und steile Stufen hinab.

Neben der imposanten Kapelle ragte ein Wohnhaus auf, Stein auf Stein gemauert, mit Fenstern und Türen, zwei Stockwerke hoch. „Da wohnt allem Anschein nach mein Nachfolger“, schlussfolgerte Überall. Luxuriös schien das Gebäude ausgestattet zu sein, für einen einfachen, genügsamen Schafhirten viel zu aufwendig.

Nach diesem ersten kleinen Schock sah Überall sich weiter um. Sein geliebtes Tälchen, dem man in späteren Zeiten seinen Namen geben würde, war noch vorhanden. Wie damals vor Jahrhunderten schlängelte sich der kleine Bach durch die Bodensenke. Um einen besseren Überblick zu erhalten, hob Überall vom Boden ab und flog so etwa 50 Meter hoch in die Lüfte; als vergeistigter Heiliger konnte er problemlos fliegen und sich an jeden gewünschten Ort beamen.

Von seinem luftigen Standpunkt aus konnte er nun weit in die Gegend schauen, am Horizont, gegen Westen erblickte er die ihm wohlvertraute Kulisse des Schlaumberg-Massivs. Dort hatte er einst ein Kloster gegründet und war eine Zeit lang dessen Abt gewesen.

Doch was sah er unmittelbar vor sich liegen? Eine riesengroße Ansammlung von gemauerten Häusern und in deren Mitte ein immens hohes Gotteshaus, dessen Zwiebelturm mächtig in den Himmel ragte. Sollte er sich beim Abstieg vom Himmel vertan haben, war er etwa doch an der falschen Stelle gelandet? Er schaute sich nochmals um, nein, es war sein Tal, das er lieb gewonnen hatte.

Das Häusermeer, das sich ihm nun darbot, muss wohl in späteren Zeiten gewachsen sein, mutmaßte Überall. Das wollte er sich nun doch ansehen. Und so flog der vergeistigte Heilige langsam auf die nahe Bebauungsgrenze zu. Dorthin, wo die ersten Häuser standen, führte eine ordentliche Straße, und kurz vor dem ersten Haus konnte er auf einem gelben Schild den Schriftzug „St. Überall – Kreisstadt“ lesen. Der Heilige kam aus dem Staunen nicht heraus. Hatte man etwa ihm zu Ehren einem Dorf seinen Namen verliehen? Oder war das Dorf sogar eine Stadt, wie auf dem Schild zu lesen stand?

Kam man in ein fremdes Dorf, in eine fremde Stadt, so suchte man als erstes die Kirche oder das Rathaus auf, so hatte Überall es zu seinen Lebzeiten als wandernder Schafhirte und Prediger gelernt. Die Kirche mit ihren gewaltigen Ausmaßen und ihrem dominanten Zwiebelturm flößte ihm Respekt ein, er wollte doch lieber zuerst einmal das Rathaus aufsuchen. Das dürfte wohl weniger voluminös und gewaltig wirken, und vielleicht konnte er dort auch ein wenig Aufklärung über die neuen Verhältnisse in seiner alten Heimat erhalten.

Hier nun muss kurz erklärt werden, was Heilige so alles vermögen, was sie an besonderen Fähigkeiten, die normalen Erdenbürgern verwehrt sind, im Repertoire haben. Also, sie können, wie bereits geschildert, fliegen und sich an jeden gewünschten Ort beamen. Auf Wunsch sind sie in der Lage, durch Mauern zu wandeln und sich unsichtbar zu machen. Heilige gehen nicht, sie wandeln. Heilige können sprechen, aber so, dass kein Laut ihrem Mund entweicht. Der Angesprochene vernimmt ihre Stimme nur im eigenen Kopf und glaubt manchmal, dass es sich um die eigenen Gedanken handele. Auch durch Mauern sehen können die Geisteswesen.

Das Rathaus war schnell gefunden, Überall brauchte nur in die Häuser um die große Kirche zu schauen; das Gebäude, in dessen Räumen etliche Menschen an Schreibtischen saßen und ihre Köpfe auf die Arme gebettet hielten, musste das Rathaus sein. Überall dachte bei sich, es sei am gescheitesten, den Stadtchef zu suchen, um von ihm einiges über die Geschicke des Ortes zu erfahren. Chefs verfügen über das umfangreichste Wissen. „Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den nötigen Verstand dazu“, war eine der Volksweisheiten, wobei manche Renitenten wiederum an der Weisheit des Volkes Zweifel hegten.

Der Heilige suchte nach dem größten Zimmer, er dachte sich zu Recht, einem Schultheiß stünde ein solches von Amts wegen zu. Er fand es rasch, aber der Raum war leer. Der Schultheiß war wohl unterwegs, Amtsträger hatten nun einmal viel zu tun. Ein wenig irritierte Überall das kleine Schild am Eingang des Zimmers, „Bürgermeister“ stand auf ihm geschrieben. Nannte man den Schultheiß heutzutage so?

„Na gut“, dachte Überall bei sich, „irgendwann wird er ja wohl seine Stube betreten, dann werde ich ihn befragen.“ Inzwischen hatte er sich doch ein wenig an den Anblick des nahen Gotteshauses gewöhnt, seine Scheu vor dem mächtigen Gebäude war verschwunden. Und so wandelte er an die Stätte der Gottesverehrung, trat durch die meterdicken Steinwände ein – und war perplex. „Heiliger Gottvater“, entfuhr es ihm, „wie riesig! Derart gewaltige Kirchen gibt es ja selbst bei uns im Himmel nicht“. Wobei ihm jedoch ein kleiner Denkfehler unterlief: im Himmel gab es überhaupt nichts Stoffliches, nichts Materielles. Vergeistigte Heilige und Selige können damit nichts anfangen, die Trinität schon gar nicht.

Überall musste die neuen Eindrücke erst einmal sortieren, er schaute sich im Kircheninnern um. Ein prachtvoller Hochaltar ragte als zentrale Stätte auf, in den Seitenschiffen lobten kleinere Altäre die Himmels-Oberen. Neben einer facettenreich modellierten Kreuzigungsgruppe sah er ein Objekt, das er auf Anhieb nicht einordnen konnte. Da stand ein großer Kasten, an den Seiten mit Figuren und Ornamenten verziert, der die Mitte des Chors in Anspruch nahm. Beide Chorseiten waren mit holzgeschnitztem Chorgestühl ausgestattet, auf einem der Plätze saß ein Mann, den Kopf auf die Brust gesenkt und scheinbar ins Gebet versunken.

Der Heilige wandelte näher an den großen Kasten heran und erkannte Einzelheiten. So lag eine menschengroße Gestalt, aus Gips modelliert, auf seiner Oberfläche, mit einem Hirtengewand bekleidet, den Hirtenstab in der Hand, zu Füßen der Gestalt ruhte ein Schaf. Wie ein Blitz durchfuhr es ihn plötzlich: die Figur sollte ihn selbst darstellen, seinetwegen stand dieser Kasten dar – es war eine Tumba, es war sein Grab!

Weil es ihm ja gegeben war, schaute der Heilige Überall nun durch die Wände des Grabs hindurch und sah eine reich verzierte und mit edlem Tuch ausgeschlagene Grablade, in der ein dunkelbraunes Skelett lag, den Totenkopf mit Silber und Gold bekränzt. Das also sollte sein irdischer Körper gewesen sein? „Also, das wüsste ich ja wohl“, dachte Überall bei sich und schüttelte den Kopf. Das war nicht er, seine irdischen Überreste sahen anders aus, das hatte er noch in bester Erinnerung.

Um ganz sicher zu gehen, stellte er umgehend eine geistige Verbindung mit dem Heiligen Lazarus her. Lazarus kannte sich aus, er war Spezialist für tote Körper und kannte deshalb auch die Skelette aller Menschen, die jemals auf der Erde gelebt hatten. Lazarus verfügte über ein phänomenales Gedächtnis, er dachte kurz nach und ließ dann den Heiligen über ihre geistige Verbindung wissen: „Nein, Dein Skelett liegt nicht im Überalls-Dom, es ruht in der Nähe des Dorfes Duley.“

Überall nickte kurz, genauso hatte er es auch in Erinnerung. „Wenn ich wieder oben bin“, er meinte die himmlischen Höhen, „werde ich einem St. Überaller Historiker zu einer Eingebung verhelfen, damit dieser die Geschichte umschreiben kann.“ Dann wandte sich der Heilige wieder der Gegenwart im Chor des Domes zu.

Dort saß noch immer die Gestalt, den Kopf nach vorne geneigt. Überall konnte schwer einschätzen, ob die Person schlief oder ins Gebet versunken da saß. Er nahm letzteres an, denn ab und zu wiegte der Mann seinen Kopf hin und her, gerade so, als ob er seinen Gedanken Nachdruck verleihen wollte. Bekleidet war die Person, deren Unterkörper im Chorgestühl verschwunden war, mit einem knallbunten Hemd, dessen Kragen weit offen stand und das von keinem Gürtel gebändigt wurde.

Der Heilige war neugierig geworden, er hatte das Gefühl, mit dem Kirchenbesucher habe es etwas Besonderes auf sich. Er entschloss sich, mit der Gestalt in einen Dialog zu treten. Überall wollte den Mann jedoch nicht direkt, also mit einer menschlichen Stimme ansprechen. Er versuchte, eine gedankliche Verbindung herzustellen, ganz so wie es die Geisteswesen im Himmel untereinander pflegten. „Sag mal, wer bist Du?“ flüsterte St. Überall hinter die Stirn der Person.


Nickel Grouilion hatte den Vormittag im Städtchen verbracht, war kurz im roten Ochsen eingekehrt, war danach ins Eiscafé an der Kirche geschlendert und hatte anschließend sein Rathausbüro aufgesucht. Leuten, die ihm begegneten, fielen an diesem Morgen sein Missmut und seine Zerstreutheit auf. Er wusste selbst nicht welche, aber irgendeine Laus war ihm anscheinend über die Leber gelaufen. Nein, heute wollte er Feierabend machen, die Schreibtischarbeit, zu der er eh kein inniges Verhältnis hatte, konnte warten.

Allem Anschein nach plagte den St. Überaller Bürgermeister der Entzug. Nicht, dass er Drogen nahm oder sich einem übermäßigen Alkoholgenuss hingab. Grouilion wurde von einer besonderen Art des Entzugs gequält. Das Stadtoberhaupt hatte mit den Jahren seiner Regentschaft immer häufiger Großveranstaltungen in sein Städtchen gebracht, mit denen er seinen Ruf als großer „Macher“ begründen konnte. So jedenfalls betitelten ihn, teils anerkennend, teils servil das örtliche Tageblatt und die Rundfunkanstalt.

Seit Jahren schon hatte der Bürgermeister die Ausrichtung sportlicher Großveranstaltungen übernommen, Querfeldeinweltmeisterschaften lösten sich ab mit Mountainbike-Rennen, Moto-Cross-Events oder etwa mit Auftritten der Wiener Hofreitschule samt ihren schnaubenden Rössern. Es war Grouilion letzten Endes ziemlich schnurzegal, welche Art von Veranstaltung er ausrichtete, Hauptsache, es wurde eine Bühne aufgebaut, auf der er sich dann als „Macher“ präsentieren konnte. Fragte man ihn nach der Begründung für die Beliebigkeit seiner Groß-Events, die eine nicht geringe Menge an Steuergeldern und Arbeitskraft des städtischen Personals verschlangen, wies er stets in seiner üblichen, nass-forschen Art darauf hin, dass der Name St. Überall in alle Welt getragen werde und sich dies für die einheimische Kaufmannschaft auszahle. Punktum.

Grouilion hatte schon längere Zeit keine Großveranstaltung mehr aufgelegt, der Entzug machte sich bemerkbar. Schon mindestens drei Wochen hatte die Zeitung nicht mehr das Zauberwort gedruckt, das ihm, wenn er es las, wie warme Wonnen durch die Adern fuhr. Er hatte auf unterschiedliche Art versucht, den Entzug zu mildern, hatte sich in sein Dienstzimmer eingeschlossen und eine Viertelstunde lang sein Mantra gemurmelt: „Macher, Macher, Macher…“. In früheren Zeiten hatte das ausgereicht, um sein Seelenleben wieder ins Lot zu bringen, heute nutzte es nichts mehr, der Blues blieb ihm treu.

Vor einigen Monaten hatte der Bürgermeister den wuchtigen Überall-Dom besucht, ein Bekannter war gestorben und als Stadtoberhaupt musste er der Pflicht entsprechend an der Sterbemesse teilnehmen. Die heilige Handlung langweilte ihn, und so hing er seinen Gedanken nach. Wie wuchtig war diese Kirche, gewaltig und gravitätisch und in ihrer Erhabenheit Ehrfurcht gebietend. Er fühlte sich wohl in diesem hohen Gewölbe, irgendwie schien dessen Größe und Wucht ihm selbst seelenverwand zu sein. Seine eigene Größe empfand Grouilion an dieser Stätte so intensiv wie sonst nur auf einer Bühne, etwa bei der Eröffnung einer hochkarätigen Radsport-Weltmeisterschaft. Als er danach den Gottesdienst verließ, war ihm wohl, sehr wohl.

Später, als er wieder einmal Entzug hatte, erinnerte sich Grouilion an das Gefühl von Größe und Erhabenheit, das ihn in dem Gotteshaus befallen hatte. Von seinem Rathausbüro schlenderte er zur nahen Kirche, sah sich unauffällig um, ob ihn nicht Jemand beobachtete und durchschritt den Seiteneingang. Er betrat den Altarraum und nahm im Chorgestühl Platz. Dort schloss er seine Augen, hing seinen Gedanken nach und wartete, dass sich dieses Gefühl der Größe einstellen möge.

Nach einer Weile wurde Groulion unruhig, irgendetwas irritierte ihn nachhaltig. Er hatte das Empfinden, als sei Jemand in die Apsis eingetreten und hielte sich ganz in seiner Nähe auf. Auch das Gefühl der eigenen Erhabenheit wollte sich nicht einstellen. Er öffnete die Augen und blickte um sich, konnte aber Niemanden erkennen. Und trotzdem wollte dieses Gefühl nicht weichen. Merkwürdig, dachte er gerade, da schoss im ein Gedanke durch den Kopf, ein derart klarer Gedanke, der ihn glauben machte, er sei überhaupt nicht in seinem Kopf entstanden.

„Bist Du der Schultheis dieser Stadt?“ ging es Grouilion durch den Kopf, dabei hatte er diesen Gedanken in keiner Weise selbst gedacht. Der Bürgermeister erstarrte, sollte dies vielleicht das erste Anzeichen eines beginnenden Irrsinns sein? „Nun sei doch nicht so ängstlich“, fuhr es ihm durch den Kopf, glasklar, wie von einer fremden Person artikuliert.

„Ist da Jemand?“ fragte Groulion mit leiser Stimme und einigermaßen verstört in den halbdunklen Raum. „Ja und nein“ erklangen wieder die Worte in seinem Kopf, „ich bin hier und doch nicht da“. Damit wusste der Verwaltungschef nichts anzufangen, ihm kamen Zweifel, ob er noch bei Verstand sei. Grouilion rang um Fassung.

Wieder klang die Stimme in seinem Kopf, klar und deutlich sprach sie ihn an: „Ich bin der Heilige Überall. Dich kann ich bestens sehen, Du kannst mich allerdings nicht erkennen. Denn ich bin ja eine Geistesgestalt, Du jedoch bist ein Mensch. Aber wie Du siehst, können wir uns ganz gut verständigen, Du musst nur nicht so ängstlich sein, Geisteswesen waren auch mal Menschen.“

Der Bürgermeister schüttelte den Kopf. „Das glaubt man nicht“, sagte er zu sich selbst. Und schon ertönte die Antwort des Heiligen in seinen Gedanken: „Kannst Du aber ruhig, vertrau mir mal ein wenig. Ich würde gerne von Dir erfahren, was so alles nach meinem Lebensende hier in dieser Stadt geschehen ist. Am besten stelle ich Dir konkrete Fragen, die Du mir beantworten kannst, dann wird das schon etwas werden mit unserem Dialog.“

Grouilion hatte sich inzwischen berappelt und seine Fassung einigermaßen wiedergewonnen. „Na gut“, dachte er, und erste Anflüge seiner Natur, die von einem nass-forschen Wesen geprägt war, gewannen wieder die Oberhand. „Wenn Du der Heilige Überall bist, dann sag mir doch, welche Farbe hat Dein Leichnam hier in dieser Tumba.“ Grouilion hatte noch das Skelett des Heiligen in Erinnerung, das vor kurzem während einer Pilgerwoche öffentlich ausgestellt war.

„Na, braun“, erklang es im Kopf des Verwaltungschefs, „aber Du darfst nicht glauben, dass dies hier einmal mein Körper gewesen war. Wen sie hierhin gelegt haben, weiß ich nicht, aber meine Leiche war’s auf keinen Fall.“ Ein wenig ärgerte es Überall schon, dass der Bürgermeister von ihm ein Zeichen seiner Authentizität verlangte, eine solche, in seinen Augen ungebührliche Respektlosigkeit kannte er nicht. Vielmehr war er es gewohnt, von seinen menschlichen Verehrern im Glauben an seine Heiligkeit und seine Wunderheilungen angerufen und angebetet zu werden.

Das Spiel begann Grouilion zu gefallen, er war neugierig, was der Heilige nun alles von ihm zu wissen begehrte. „Wie kam es denn zur Gründung dieser Stadt, und wann gab man ihr meinen Namen?“ fragte St. Überall den Bürgermeister. „Das kann ich Dir leider nicht erklären, das hat mich -ehrlich gesagt- auch nie interessiert“, antwortete der. „Ich kann Dir etwas über die Stadtgeschichte seit 1982 erzählen, das habe ich alles noch in bester Erinnerung.“ „Und wie kommst Du ausgerechnet auf das Jahr 1982“, fragte leicht verwundert der Heilige. „In jenem Jahr bin ich Bürgermeister dieser Stadt geworden“, antwortete Grouilion, und sein Stolz, der ihn sich in die Brust werfen ließ, war auch für das sensible Geisteswesen spürbar.

Irgendwie war St. Überall enttäuscht, für ihn war eigentlich die Entstehungsgeschichte „seiner“ Stadt von Interesse. Hier nun bemerkte er seinen Denkfehler, besser hätte er wohl einen Lokalhistoriker, von denen es in St. Überall sicherlich einige gab, nach der Stadthistorie gefragt. Einen Politiker interessieren andere Dinge, das hätte er wissen müssen, das war auch zu seinen eigenen Lebzeiten mit Fürsten und Bischöfen nicht anders gewesen. „Na gut“, dachte er, „das lässt sich nachholen“.

 „Mich interessiert nun noch, was heutzutage der Schultheiß einer kleinen Stadt so zu tun hat“ sprach Überall in den Kopf Nickel Grouilions eingedenk dessen Bemerkung, er könne die Stadtgeschichte erst ab dem Jahr 1982 erzählen. Der Bürgermeister blühte innerlich auf, dies war sein Thema. Vorab aber musste er noch eines klarstellen. „Hör mal, heiliger Überall, lass das mit dem Schultheiß, heutzutage sagt man „Bürgermeister“ oder besser noch City-Manager. Du musst wissen, die englische Sprache ist modern, und unsere Stadt ist eine moderne Stadt.“ Leicht verblüfft, aber lernfähig antwortete der Heilige: „Okay, Bürgermeister.“

„Also“, sprach Grouilion, „dann fangen wir einmal an mit dem Jahr 1981. Damals ging die Amtszeit des alten Bürgermeisters zu Ende, und der Stadtrat musste seinen Nachfolger wählen. In meiner Partei habe ich mich durchgesetzt und das Rennen um die Kandidatur gemacht, zack zack. 1982 wurde ich dann der Nachfolger von Johann Faller. Und dann ging in der Stadt Schmitz‘s Katze ab, Überall!“

Leicht pikiert -denn der Heilige war es gewohnt, auch als Heiliger angeredet zu werden- und ebenso erstaunt erkundigte sich St. Überall, welche Katze denn gemeint sei und welche Bewandtnis es um sie habe. Dies wiederum verstand Grouilion nicht und meinte: „Na, Schmitz’s Katze eben. Sagt man so.“ Zufrieden mit dieser knappen Auskunft war St. Überall nicht, zumal er immer noch nicht verstanden hatte, welche Aufgabe die Katze einer Familie Schmitz in der Stadt ab dem Jahr 1982 wahrzunehmen hatte.

Grouilion redete weiter, voller Begeisterung über all das, was er seinem Gesprächspartner noch erzählen wollte. In ihm hatte er endlich einmal, so glaubte er, einen adäquaten Zuhörer gefunden, dem er mit seinen Taten imponieren konnte. „Als erstes habe ich mal die Penner im Rathaus zusammen gefaltet; bevor die auch nur schauen konnten, hatten sie schon einen Tritt im Hintern. Und dann habe ich sie an die Kandare genommen, einen nach dem anderen. In einem halben Jahr standen die stramm, wenn sie mich nur von Weitem sahen, zack zack!“ Grouilion konnte seine Affinität zu einer militärisch geprägten Attitüde und dem dazu gehörenden Sprachgebrauch nicht verbergen.

Der Heilige Überall begann sich zu langweilen, ihn interessierten die Heldentaten seines Gegenüber herzlich wenig. Grouilion war in seiner Erzählung gerade mal im Jahr 1982 angelangt, und es lagen noch dreißig Jahr vor ihm, über die er wohl berichten wollte. Das hatte sich der Heilige nun völlig anders vorgestellt. Während der Bürgermeister seine Taten schilderte und seine Begeisterung dabei ständig zunahm, verlor der Heilige sein Interesse immer mehr. „…habe ich angeordnet…. habe ich in die Hand genommen …habe ich völlig anders gemacht…“ St. Überall hörte nicht mehr hin. Er griff eine frühere Idee auf und beschloss, den Dialog mit dem Bürgermeister zu beenden. Weil er aber ein sehr höfliches Geisteswesen war, unterbrach er dessen Redefluss nicht abrupt, sondern zog seine Gedanken aus dessen Kopf leise und unmerklich zurück.

St. Überall schaute noch einmal auf den gestikulierenden und vor sich hin murmelnden Schultheiß nieder, segnete ihn im Namen der Dreifaltigkeit, lächelte sanft und entschwebte durch das Gemäuer des Gotteshauses ins Freie. Die Sache wollte er nun auf andere Art und Weise angehen, um sein Interesse an der Stadtgeschichte befriedigen zu können. Sicherlich gab es hierzulande einen Geschichtsschreiber, der ihn über die Historie rasch und präzise informieren konnte.

Und so nahm St. Überall geistige Verbindung auf zu seinem heiligen Freund, dem Apostel Petrus, der als himmlischer Schreiber und Prokurist der Trinität über alle historischen Geschehnisse bestens Bescheid wusste. „Kennst Du einen Lokalhistoriker hier in meiner Stadt“, fragte Überall seinen heiligen Freund, „einen, der mich über das Geschehen der letzten 1600 Jahre informieren könnte?“ Nach kurzem Überlegen riet ihm Petrus, doch Verbindung mit einem jungen Regionalgeschichtler namens Roman Viola aufzunehmen; der könne ihm sicherlich in seiner Causa weiterhelfen. Dies wollte St. Überall denn nun angehen.

Nickel Grouilion war mit seiner Schilderung inzwischen im Jahr 1983 angekommen, er hatte sich in totale Begeisterung geredet. Gerade wollte er von seinen grandiosen Erfolgen hinsichtlich eines gigantischen Rockfestivals, das er veranstaltet hatte, berichten, als ein grausam lautes Quietschen in seine Ohren schoss. Erschrocken fuhr er auf. Durch die ungeölte Tür zur Sakristei war soeben Karl-Heinz Junkerjörg, der Küster der Pfarrkirche, eingetreten. Der Bürgermeister, noch völlig eingefangen von dem Dialog mit dem Heiligen Überall, wurde mit der Gegenwart in Form des real existierenden Messners konfrontiert. Das verursachte ihm, man kann es nachempfinden, innere Konfusion. Junkerjörg nickte höflich in die Richtung des Verwaltungschefs und ging seiner Arbeit in der Kirche nach.

Grouilion war verwirrt wie selten zuvor. Mein Gott, was war das nun für eine Geschichte, fuhr es ihm durch den Kopf. Zaghaft formte er einen Gedanken und schickte ihn zu seinem Gesprächspartner St. Überall. Aber nichts geschah, keine Antwort realisierte sich in seinem Hirn. Sollte er eingeschlafen sein und dies alles doch nur geträumt haben? Sollte er vielleicht doch keinen Kontakt mit dem Geisteswesen gehabt haben?

Langsam erhob sich der Rathauschef aus dem Chorgestühl, immer wieder schüttelte er den Kopf. Junkerjörg beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Ihn verwunderte die Anwesenheit des Bürgermeisters in dem heiligen Gemäuer, Grouilion eilte nicht gerade der Ruf einer ausgeprägten Frömmigkeit voraus. Unter Kopfschütteln und leise vor sich hin murmelnd erreichte der Bürgermeister die Kirchentür und trat ins Freie. Der Messner bekreuzigte sich.

Die gleißend helle Sonne bildete einen harten Kontrast zu dem diffusen Halbdunkel im Chor der Kirche. Grouilion kniff die Augen zusammen und schirmte sie ab mit seiner rechten Hand. Jetzt, im harten Licht der Sommersonne und angesichts der Passanten, die an ihm vorbei eilten, fand er wieder in die Realität zurück. Er musste doch wohl im Chorgestühl eingenickt sein und seine Begegnung mit dem Heiligen Überall nur geträumt haben.

Kloko, der Haus- und Hofgrafiker des Bürgermeisters, ging vorbei, kam auf ihn zu und sprach ihn an, servil wie immer: „Hast Du Zeit, Nickel? Dann lass uns doch bei Wanni ein Bier schnappen, tut bestimmt gut bei diesem Wetter.“ Nickel Grouilion nickte, ein Bier war die richtige Antwort auf diese ganze verrückte Geschichte, die er gerade erlebt oder geträumt hatte. Sie gingen die wenigen Schritte über die Straße hoch zu Wannis Café und nahmen an einem Rundtisch im Freien Platz.

Der Wirt kam aus der Tür und trat an den Tisch der Beiden. „Was zu trinken? Kloko, Du einen Weißwein? Und Nickel, was trinkst Du?“. „Ein heiliges Pils“, antwortete gedankenverloren der Bürgermeister. Wanni schaute ihn verständnislos an.

Der Heilige Überall hatte sich inzwischen ausführlich über die Geschehnisse der letzten 1600 Jahre in seiner Stadt informiert. Wie zuvor bei dem Bürgermeister tauchte er in die Gedanken von Roman Viola ein, den er in dessen vier Wänden vor sich hin meditierend antraf. Viola stutzte nicht einmal, als ihm der Heilige erklärte, worum es ihm ging, er war alles Erdenkliche gewohnt, ihn konnte kaum noch etwas verblüffen. Auf alle Fragen gab er also bereitwillig Auskunft, soweit er dies vermochte, und zeichnete Überall im Zeitraffer ein präzises Bild von den Geschehnissen der letzten 1600 Jahre im Städtchen.

Roman Viola war gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angekommen und erzählte: „…und dann wurde 1982 ein neuer Bürgermeister in sein Amt gewählt“, als der Heilige ihn mit einem leisen Entsetzensschrei abrupt unterbrach: „Um der Trinität Willen, nicht schon wieder diese Nummer!“ Viola war nun doch etwas verdutzt und wollte gerade eine Frage stellen, als er die klaren Worte Überalls in seinem Kopf vernahm: „Du hast mir sehr geholfen, dafür danke ich Dir. Als mein sichtbarer Dank wird Dir der Chronist kommenden Samstag bei eurem Wanni-Stammtisch zu einem Glas Crémant verhelfen, ich werde ihm das eingeben.“

Roman Viola schwieg. Wieder hörte er die Stimme des Heiligen: „Und nun, nachdem ich viel über die Geschichte meiner Stadt erfahren habe, ist es an der Zeit, mich wieder in meine himmlischen Sphären zu begeben. Dir, Roman, wünsche ich noch viele gute Ergebnisse bei Deinen Forschungen. Ich werde gerne bei Petrus ein gutes Wort für Dich einlegen, damit er Dir vielleicht zu einigen neuen Erkenntnissen verhelfen kann. Leb wohl und führe weiterhin ein ordentliches, Gott gefälliges Leben.“

Roman Viola spürte einen leisen Luftzug, der Heilige Überall war entschwunden. Verdutzt rieb er sich die Augen, als er aus seiner Meditation wieder in die Realität eintrat. Ein Heiliger sollte mit ihm gesprochen haben … es war dermaßen exotisch und verrückt, dass er glaubte, es nicht weiter erzählen zu können.

Nickel Grouilion behielt seine Erlebnisse ebenfalls für sich


Das Trail-run-Event Keep on running

„Glückauf!“, den traditionellen Bergmannsgruß, kennt man allenthalben, nicht nur im Saarland. Auch ein „Schluckauf“ hat wohl schon jedem Zeitgenossen kurzzeitig die Sprache verschlagen. Aber ein „Traillauf“? Was verbirgt sich hinter diesem ungewöhnlichen Wort?

Im einheimischen „Tageblatt“ stand  zu lesen: „3. St. Überaller Trail-run-Event Keep-on-Running-Wochenende“. Warum eigentlich noch "Wochenende" und nicht "Weekend"? Bei derart aneinander gereihtem Denglisch, argwöhnte der Chronist,  wurde wohl wieder etwas Sensationelles im Rathaus erfunden und  nun dem staunenden Volk präsentiert. Beim Weiterlesen wurde schnell klar: genauso verhält es sich.

„Das ist etwas ganz Neues, was es in dieser Art noch nicht gibt“, sprach Bürgermeister Nickel Groulion vor zwei Jahren im "Tageblatt". Nun gut, nichts Neues ist es, dass der Rathauschef stets etwas ganz Neues, Hochkarätiges oder Sensationelles präsentiert. Das hat man im Verlauf der Jahre als St. Überaller Bürger gelernt. Und so liest man auf der städtischen Homepage: "Zum dritten Mal findet eines der größten internationalen Trailrun-Events im Saarland statt". Trailrun-Event, beim lauten Vorlesen hat sich der Chronist auf gudd Saarländisch fast "die Zunge verknoddelt".

Nun also der dritte „Traillauf“. Beim Weiterlesen wird man aufgeklärt: „Wenn sich Sportler abseits befestigter Wege durch schwieriges Gelände kämpfen, ist von „Trail“ die Rede.“ Da staunt der Laie – aber der Fachmann wundert sich nicht. Schon zu Turnvater Jahns Zeiten rannten sportbegeisterte Frischluftfreunde durch Wald und Feld, im Leibchen, mit knielangen kurzen Buxen und am Ziel verdreckt bis zu den Augenbrauen. Damals nannte man das „Geländelauf“, was der Sache auch entsprach. So hieß es auch noch in den letzten Jahrzehnten, bis dann ein Neusprech den Begriff „Trail“ erfand. Was dasselbe ist, aber vermutlich moderner klingt.

Nun also die dritte Auflage einer sensationellen Novität in St. Überall. Man wird schlau gemacht: „Weg von asphaltierten Straßen und breiten Wald-Autobahnen werden die Teilnehmer mitten ins üppige Grün des Naturparks Saar-Hunsrück, durch dichte Wälder und verwunschene Bachtäler, vorbei an alten Baumriesen und über kniffelige Klettersteige geführt. Laufen wird hier zum Naturerlebnis fernab der hektischen Zivilisation.“ Eichendorff hätte ob solch romantischer Sprachgewalt seine helle Freude gehabt.

Donnerwetter, mag es einem durch den Kopf gehen, vielleicht ist dies ein wirklich sinnvoller Beitrag zur Enthektisierung unserer Zivilisation. Und so ganz nebenbei erfährt man, dass es in unseren Wäldern auch Autobahnen gibt. Oder hat der Chronist da etwas falsch verstanden?

Man stelle sich das Ganze einmal  konkret vor: Hunderte wenn nicht gar Tausende von schnaufenden, prustenden und trampelnden Waldläufern dringen ins Dickicht des Naturparks Saar-Hunsrück ein. Wildschwein, Reh und Hase werden von Panik erfasst, weil sie das "Ihvent" für eine Treibjagd halten. Käfer werden platt getreten, Pilze verkriechen sich in ihr Myzel, Blumen und Gräser ziehen ihre Köpfe ein. Und dann reden die Veranstalter -eine Event-Agentur und die Stadtverwaltung- locker flockig von einem „Naturerlebnis“, das  auf der Homepage in der Feststellung  "Die Natur ist die Laufstrecke"  gipfelt.

Wem das zuviel an Natur sein sollte, kein Problem. Für die Urbanisierten unter den Sportsfreunden gibt’s natürlich auch ein Angebot, den „Zitty-night-Sprint“, so steht’s geschrieben. Drei Kilometer durch die St. Überaller Altstadt. Gespickt wird er werden, der Parcours, gespickt mit Hindernissen, Ecken und Kanten quer durch die historische Altstadt, weiß die Event-Agentur.  "Treppen, Tunnels, steile Böschungen, Kopfsteinpflaster, Baumstämme gilt es zu überwinden", erzählt die städtische Homepage, all das in der historischen Altstadt. Und wieder stutzt der Chronist: Tunnels überwinden? Früher ist man da hindurch gewandert oder geklettert ... Aber so sind sie halt, die modern times.

Man fragt sich vieles, auch, was die Naturschützer im Naturpark Saar-Hunsrück dazu sagen. Dort, wo die Ranger der Naturwacht Besuchergruppen sensibel und mit aller Vorsicht durch die Schönheiten der Natur führen und darauf achten, dass kein Wild gestört und keine Wildblume zertrampelt wird.

Und man fragt sich unweigerlich, was wohl als nächstes Event auf die St. Überaller Sensations-Palette kommt. Der Chronist tippt auf „Dog-Soapbox-Racing“. Dressierte Hunde werden Seifenkisten pilotieren und der hochattraktiven St. Überaller Zitty wieder zu einem weiteren hochkarätigen "Ihvent" verhelfen. Und bei den Apachen in Nordamerika, bei den grönländischen Inuits oder bei den australischen Aborigines - überall raunt man am abendlichen Lagerfeuer von den ungeheuren Taten, Worten und Werken Nickel Grouilions und preist sein hochkarätiges Wirken. So hat der es gerne.




Multifunktional

Multifunktional? Da stellte man sich doch immer vor, die Dinge, denen man dieses Attribut zuordnete, hätten etwas von der berühmten "eierlegenden Wollmilchsau". Also, wenn ein Mensch gleichzeitig, sagen wir einmal Radfahren und dabei Zigarette rauchen kann, ein Liedlein dazu pfeift und noch die Gegend um sich herum genau registriert, dann agiert er nach landläufiger Meinung multifunktional. Heute, in der modernen, in deutschen Landen von Denglisch geprägten Welt, benennt man solch außerordentliche Vielseitigkeit mit dem Begriff "multitasking". Geht wohl auch, ob's aber schöner, erhellender, aufklärender ist?

Also, mit "multifunktional" wissen wir grundsätzlich etwas anzufangen. Heute Morgen jedoch kam das große Grübeln. Fand sich doch da in der üblichen Wochenanzeige von Aldi-Süd neben Werbung für Putenbrustwürfel,  Rasenmähern und einen Terrassen-Kamin das Foto einer dunkelhaarigen weiblichen Schönheit, mit angedeuteten Mandelaugen, den Betrachter anlächelnd und - fast naggisch (Foto bitte hier klicken). Das ist Saarländisch und für die "aus'm Reich" übersetzt man das mit "nackt".

Die Werbedame, durchaus ansehnlich von Statur, war mit  nichts anderem bekleidet als mit einem Büstenhalter. Die Abbildung endete an der Hüfte des Models, BH-Werbung bedarf nun mal keines Unterleibs. Wie es sich gehört waren neben der Abbildung die Körbchengrößen aufgelistet, weiter unten stand, gedacht wohl für besonders Begriffsstutzige, in dicken Lettern zu lesen: "BH".

Nun kennt man das alles ja zur Genüge. Dann aber kam die Novität, die Anlass gab, darüber nachzudenken, ob Aldi-Süd diese Werbung ausschließlich in der Welthaupstadt der Hochkarätigkeit , St. Überall,  geschaltet hatte, also in der Weltstadt, überquellend vor hochkarätigen Events und von  Bürgerinnen und Bürgern bewohnt, die allesamt der englischen Sprache mächtig sein mussten. Großereignisse werden hier schließlich von der englischen Sprache begleitet.

Schwarz auf weiß stand es da zu lesen, direkt neben der leicht bekleideten Schönen: “Skin to skin Multifunktions BH“. Der Chronist konnte beim ersten Anblick und besten Willen lediglich erkennen, dass es sich um ein schwarzes Dessous-Stück handelte, das nach seiner Kenntnis keine besonderen Merkmale aufwies.  Schön ordentlich über die zu verdeckenden Körperteile der Dame gestülpt bot sich das Foto den Blicken dar.

Kann man einer Sache nicht auf den Grund gehen, wird man rasch zu Interpretationen und Mutmaßungen verleitet. Und so überlegte auch der Chronist, welche Funktionen denn ein solches, meist unsichtbar bleibendes Kleidungsstück neben seiner ureigenen noch haben könnte. Viele weitere Möglichkeiten eines sinnvollen Einsatzes gab es da nicht. Wie der nicht abgekürzte Name des Objektes sagt, ist erst einmal an die Stützung eines mehr oder weniger voluminösen weiblichen Körperteils gedacht. Das macht Sinn, besonders in schwereren Fällen.

Und dann? Multifunktional? Einen Damenstrumpf konnte man in früheren, weniger elektronisch regulierten Autofahrerzeiten noch als Übergangslösung, als Ersatz für einen gerissenen Keilriemen benutzen. Ein Badetuch rubbelte nicht nur den Body trocken, es verlieh der Damenwelt  zum Beispiel auch Sichtschutz beim Bikini-Wechsel in der Badeanstalt. Ein BH als Keilriemenersatz? Wie sollte man das bewerkstelligen können?

Good old Germany sei das Land der Ideen, wirbt der Wirtschaftsminister für den Standort Deutschland. Im Saarland meint der Ministerpräsident, die einheimischen Ressourcen befänden sich „in den Köpfen unserer Einwohner“. Da will man natürlich nicht hintan stehen. Also bemühte der saarländische Chronist seine Ressourcen im Kopf und dachte nach.

James Bond kam ihm in den Sinn, 007 war stets gut für Überraschungen . Wann immer es brenzlig für ihn wurde, zauberte er innovative, teils skurrile Waffen aus dem Zylinder. Könnte ein BH zu einer Geheimwaffe verfeinert werden?  Vielleicht zu zwei kleinen Raketenwerfern, in jedem Körbchen eine? Schnell verwarf der Chronist die Idee. Man stelle sich James Bond vor, wie er im Falle der Gefahr sein T-Shirt hochreißt und mit dem über die haarige Männerbrust gezogenen Damenutensil auf die angreifenden Bösewichte zielt.  Er müsste seine Waffe erst gar nicht abfeuern, die Übelmenschen hätten sich wohl totgelacht.

Das also funktionierte nicht.  Was sollte man mit einem BH noch anfangen können?

Nachdem die Ressourcen in seinem Kopf sich partout als unergiebig erwiesen hatten,  probierte es der Chronist auf die allzeit bewährte Weise: kann man ein Problem nicht selbst lösen, befasst man die lang gediente Thekenrunde in seiner Stammkneipe damit. Gesagt – getan.

Und dann purzelten die Ideen nur so hervor. Peter, ein versierter Auto-Tüftler, erinnerte sich an seine Kindheit: „Wenn mir Erdbeere holle gang senn,  hat uns die Oma immer e alda BH von sich mitgenn. Der war groß genuch, dass die ganze Erdbeere renn gang senn.“ Die Runde nickte nachdenklich, aber Werni kamen Bedenken. „De Oma ihrer, joo. Awwa guck da mol das Bild do ahn, en die klähne Kerbscha krischde jo nix renn“. Wieder nickte die Runde.

Und so ging es munter weiter. Beim Sonnenbad könnte man die Augen mit dem duftigen Textil abdecken. Oder es als Steinschleuder benutzen, das funktioniere durchaus, meinte Werner, dem dann aber von der Thekenrunde die sportliche Kompetenz abgesprochen wurde.

Auf dem Nachhauseweg, zu später Stunde  ging dem Chronisten der BH nicht mehr aus dem Sinn.  In der Tat, Werbung lügt also doch nicht. Aldi hatte nicht hochgestapelt, bei tieferem Nachdenken erwies sich das duftige Teil als „multifunktional“, zumindest könnte es vielseitig genutzt werden. Und das für klitzekleine 6,99 €uro.

Zu Hause angekommen wollte es der Chronist noch einmal genau wissen. Er warf seinen Laptop an, klickte auf WIKIPEDIA und fand dort folgende Definition: „Ein Büstenhalter besteht aus zwei geformten, miteinander verbundenen Körbchen („Cups“) zur Aufnahme der Brüste, zwei über beide Schultern führende Träger zur vertikalen Stabilisierung und einem am Rücken verschließbaren Band zur horizontalen und eigentlichen Stabilisierung.“

"Vertikale und horizontale Stabilisierung", nun ja. Von „multifunktional“ stand nichts drin.



ALLRIGHT,  PEOPLE

„Good morning people,  is all all right”?   Bürgermeister Grouilion betrat aufgeräumt und bei bester Laune sein Vorzimmer, in dem sich bereits etliche städtische Bedienstete versammelt hatten. Manöverkritik war angesagt, seine Sekretärin hatte schon vor dem großen Ereignis die wichtigsten städtischen Beteiligten zu der Besprechung gebeten.

„Tja, Leute, das war ja wieder mal ein Ding, sagenhaft, the world was here“, begann der Rathauschef die Nachbesprechung. Sein Hawaiihemd stand halb offen, die beiden obersten Knöpfe hatten das Weite gesucht, sie konnten der stolzgeschwellten  Brust des Bürgermeisters nichts entgegen setzen. „People, people“, seufzte dieser, immer noch ergriffen von dem großen Erfolg des hochkarätigen Events, das gerade in St. Überall über die Bühne gegangen war.  Ergriffen von seinem Erfolg.

Drei Tage lang quälten Cross-Biker -früher sprach man von  „Querfeldeinfahrern“- Wiesen und Waldwege, wälzten sich ab und zu im Schlamm und schlidderten, gaben sie einmal nicht acht, über vereiste Stellen auf dem Hosenboden Abhänge hinunter. Die ortsansässige Waldbevölkerung verstand dies nicht.  Hasen, wilde Schweine und Rehe, Igel und Fuchs waren nachhaltig irritiert, sie selbst blieben nach Möglichkeit immer auf den eigenen Beinen, was die Natur auch so vorgesehen hatte. Da verstehe einer diese Menschen …

„UCI Cyclo-Cross World Championships“, so stand es auf Unmengen von Hinweisschildern rund um’s Städtchen zu lesen. Nun weiß man als geübter St. Überaller, bedingt durch jahrelanges Training, dass es immer dann weltweit einmalig wird, wenn an allen Einfallstraßen Hinweisschilder mit englischem Text auftauchen. So auch dieses Mal.

Englisch reden heißt bedeutsam sein, da beißt die Maus kein‘ Faden ab. Und so wiesen dann die in Englisch beschrifteten Hinweisschilder der Welt den Weg zum Ziel, zu „Start & Finish“.  Ins „Accrediation Center“ mussten die Pedalritter pilgern, „Team Camper“ sollten sich auf den Weg in die „Teams Area“ machen, „Men/Woman“ sollten den Weg ins WC finden. Das ginge ja noch an, aber warum durfte hier nur eine einzige Dame müssen?

„Officials“ und „VIP’s“ sollten sich zum „TV Village“ begeben, um dort der „Press“ für Interviews zur Verfügung zu stehen. Auch „Sponsors“ und „Guests“ mussten auf den richtigen Pfad zu den „U23-Juniors“ gebracht werden. Wer kein Englisch sprach, war in diesen Tagen verraten und verkauft ( Fotohierklicken)

Meister Grouilion überließ nichts dem Zufall: im Tageblatt hatte man erfahren können, dass die städtischen Bediensteten, die anlässlich des Events zu Hütern der Ordnung umfunktioniert worden waren, eigens Englisch-Kurse belegen sollten, um die Gäste aus aller Welt gebührend informieren zu können. „No chance for the fortuity!" hatte der Rathauschef die Parole vorgegeben.

Bürgermeister Grouilion ließ noch einmal die Geschehnisse Revue passieren, andächtig lauschte die Runde der Mitarbeiter seinen Worten. „Wir waren mit unserem Event fernsehtechnisch in der ganzen Welt vertreten, wir haben die beste Werbung für unser Land hingelegt“, strahlte er und lobte die Landesfunkanstalt, die das Sportereignis in ihrem Fernsehkanal übertragen hatte.

Tags zuvor war der Rathauschef wie auch weitere Personen des Öffentlichen Lebens von den Fernsehleuten aus einem aktuellen,  traurigen Anlass interviewt worden; der Intendant des Senders war einem längeren Leiden erlegen. Und der Bürgermeister  sprach in die Mikrofone,  er sei „seinem Kumpel“, dem verstorbenen Intendanten, für dessen Kooperation bei der Durchführung der St. Überaller „Großereignisse“ dankbar. „Mein Kumpel“, sagte er.

„Also, ich will es kurz machen, ihr wisst, dass ich keine langen Reden halte. Thanks to you all, ihr habt einen supertollen Job gemacht, ich habe ein hochkarätiges Team, ich bin zufrieden“, sprach Grouilion in die Runde. „Alles klar? Also people, wieder an die Arbeit“. Damit war die Manöverkritik beendet.

Auf dem Rückweg zu seinem Arbeitsplatz brummelte ein Mitarbeiter vom Bauhof  einer Kollegin zu: „Do hätt ma awwa besser Belgisch gekonnt als wie Englisch, damit ma se verschdann hätt.“ „Richtig“,  stimmte diese zu, „un am beschde noch holländisch debei.“

Die vorbereitenden englischen Sprachwochen wären also nicht notwendig gewesen. In der Tat waren kaum Engländer und Amerikaner nach St. Überall aufgebrochen, um das tolle Sportevent mit zu erleben, sie kamen einfach nicht. Dafür pilgerten Scharen von holländischen und insbesondere belgischen Zuschauern ins Städtchen, um ihre Cracks anzufeuern. St. Überall war fest in beneluxischer Hand. Hunderte von Wohnmobilen, Hunderte Busse und eine ganze Armada an PKWs rückten an und verteilten sich auf Parkplätze, Wiesen und Straßenränder rund um die Rennstrecke.

Im Sportzentrum, dem Herzstück des Großevents, hatte man in Erwartung der belgischen Radler-Fans eigens ein „belgisches Dorf“ aufgebaut, wohl um es den Sporttouristen so vertraut und heimelig wie möglich zu machen. Da waren -man befand sich schließlich in St. Überall, der Heimatstadt des Superlativs- die „größten Pommes-frites-Verkaufsstände“ aufgebaut, ein Bierzelt mit einem Fassungsvermögen von ein paar Tausend Besuchern wartete auf die angesagten Scharen von Humpenschwingern, und eine überdimensionierte Beschallungsanlage gab denjenigen, die noch nicht von Bier und Schnaps vollends zugedröhnt waren, den Rest.

Der Chronist und weitere, etwas distanziertere Beobachter wurden durch die Fakten aufgeklärt: Belgier sind Unmengen von Fritten verzehrende, ganze Bier-Bäche verschlingende und lautem Schlichtgesang huldigende Zeitgenossen, denen es Freude bereitet, Rad fahrenden Cracks beim gelegentlichen Schlammbad zuzusehen. Man hatte bis dato eigentlich immer ein anderes Bild von den Belgiern. Aber nun, naja, nicht verwunderlich, dass die keine anständige Regierung zusammen kriegen …

Sport gab es dann auch noch, ohne böse Sturzfolgen für die Radartisten ging es diesmal ab. Etliche Freunde des Bierzeltes hatten da durchaus heftiger mit den Folgen ihres eigenen Absturzes zu kämpfen. 

„Irgendwie gespenstisch“, meinte der Chronist zu seiner Ehefrau, als sie am frühen Abend, so gegen 19.00 Uhr, am Ort des Geschehens vorbei fuhren. Leer die tagsüber vollgeparkten Straßenränder und Parkplätze, leer das Bierzelt, leer die Frittenbuden. Kein Beschallungsgetöse berannte die Ohren, kein Duft von ranzigem Frittenöl durchzog die Luft. Nur im Städtchen grölten sich noch ein paar übrig gebliebene belgische Freunde, schwarz-gold-rot drapiert, durch die ansonsten leeren Gassen. Husch husch - weg waren sie alle, die Freunde des Schlammcatchens auf zwei Rädern.

Weg war überhaupt nichts, jedenfalls nicht auf dem Festgelände und rund um die Rennstrecke. Wie auf einem Schlachtfeld sah es aus, bei Tageslicht konnte man die Bescherung erblicken. Tonnenweise, dicht verstreut über Wiesen, Sportstadion und Festplatz lagen sie da. Abertausende von Pappbechern, Frittenschalen und kleinen Flachmännern zierten das Gelände, Müllkippen-Fans hätten ihre helle Freude an dem Szenario haben können.

Beim Anblick des Infernos musste der Chronist an ein Gespräch zwischen zwei städtischen Bauhofmitarbeitern vor einigen Monaten, kurz vor einem anderen Groß-Event, denken; mit den beiden saß er gemeinsam im Wartezimmer einer Arztpraxis. „Wenn ich doo dran denke, was mir die näägschd Woch doo widda fier e Scheißdreck wegmache misse, doo wird’s mir ganz schroo debei, do gäng ich ma am liebschde graad e Krangeschein holle“, meinte der eine. Sein Kollege nickte zustimmend und ergänzte: „Der ganze Jääbs doo bringt jo iwwahaupt nix fier die Schdadt, awwa mir hann die Aawet devon.“ Womit er den Kern der Dinge traf.

„Wir sorgen mit diesem Event für Kaufkraft in unserer Stadt“, konnte man Bürgermeister Grouilion auch dieses Mal, wie immer vor derartig teuren Großereignissen, sagen hören. Mehr als eine Million schöner Euros musste der St. Überaller Steuer- und Gebührenzahler in den Stadtsäckel einbringen, um die Kosten für die Schlammschlacht abzudecken.

Nun, was kommt wieder zurück? fragt man sich als öffentlicher Geldgeber. Tätigen Humpen schwingende und Pommes mampfende Sportsfreunde im Städtchen die großen Geschäfte im Einzelhandel? Kauft sich auch nur einer dieser lustigen Jungs und Mädels eine Hose, einen Rock oder ein paar Schuhe in den Boutiquen und den Kaufhäusern im Stadtkern? Welcher Fahnen drapierte Fan tauscht seine heiß geliebte Kluft gegen ein neu erworbenes Beinkleid ein?

Unwidersprochen beschrieb das Tageblatt im Vorfeld des Großereignisses dessen finanzielle Seite. Über eine Million Euro, so wird der Bürgermeister dort zitiert, buttere das Städtchen in die Schlammschlacht und deren Umfeld. Nickel Grouilion spürte dann aber doch wohl die aberwitzige Kosten-Dimension, in die er die Steuerzahler hinein manövriert hatte.

Jedenfalls blies er die Backen auf -eine beliebte Pose, wenn man Widerspruch von vorne herein erst gar nicht aufkommen lassen möchte- , mit dicken Backen also verkündete er, soviel öffentliches Geld in das Event zu stecken, sei überhaupt nicht schlimm. Es flössen ja weit über zwei Millionen Euro wieder zurück in die Wirtschaft.

Nanu, wunderte sich nicht nur der Chronist, wohin flossen denn wohl die Millionensummen? „In die heimische Wirtschaft“, klärte der Rathauschef auf, wer und was immer das auch sein mochte. Hotellerie und Gastronomie sollten es sein, die sich goldene Nasen verdienten. Erhebliche Bedenken kamen auf: wie können drei Hotels im Städtchen mit ihren vielleicht 150 Betten gemeinsam mit einer Handvoll Restaurants in drei Tagen Millionenumsätze tätigen? Der Zampano aus dem Rathaus klärte auf: nahezu alle Hotels im gesamten Saarland und darüberhinaus „bis Trier und Kaiserslautern“, so Grouilion, seien ausgebucht. Das mache dann zwei Millionen Euro Umsatz. Mit dieser grandiosen Rechnung mag der geneigte Leser nun anfangen, was er möchte ….

Jedenfalls mochten etliche St. Überaller Bürger der merkwürdigen Rechnung nicht folgen. Die Millionenkosten sollten beim einheimischen Steuerzahler verbleiben und die Umsätze den außerstädtischen Hotelliers zugute kommen? Ein Kaufmann aus dem Städtchen brachte es auf den Punkt: „Mit dem Geld hätte die Stadt besser die kaputten Straßen und Bürgersteige geflickt, dann bräuchten unsere Kunden nicht wie Eichhörnchen über Schlaglöcher und Pfützen zu hüpfen, wenn sie in unsere Geschäfte wollen.“

Dem wäre eigentlich nichts mehr hinzu zu fügen.


Goliath & der Boss

Sie nennen ihn „Goliath“. In der Tat ist er ein Prachtexemplar von einem Mann, jedenfalls sagt das seine Körpergröße. Knappe zwei Meter hoch ragt seine Schädeldecke über den Erdboden hinaus. Bei seinem Job hilft ihm das Gardemaß, er behält immer alles im Blick.

Goliaths Körperlichkeit korrespondierte nicht allzu sehr mit seinen intellektuellen Fähigkeiten, beide Seiten verhielten sich, sagen wir,  reziprok proportional zueinander.  Es war nun einmal so, die Nornen hatten Goliaths Schicksalsfaden nicht allzu dick gesponnen und ihm kein breit gestreutes Sortiment an Gaben in die Wiege gelegt.

Weil das nun einmal so war, wurde Goliath zu einem „Städtischen“, einem Mitglied der St. Überaller Stadtverwaltung. Damit war er „unner“, wie man auf gut Saarländisch zu sagen pflegt. Er verfügte also über eine wirtschaftliche Basis, er hatte ein festes Einkommen und eine Daueranstellung. Um Fehlinterpretationen beim geneigten Leser zu vermeiden: keinesfalls soll mit dieser Charakterisierung eines einzelnen städtischen Angestellten ein Pauschalurteil über die zahlreichen anderen Bediensteten der städtischen Verwaltung gefällt werden, dies stünde dem Chronisten nicht zu und wäre möglicherweise auch ungerecht.

Goliath also wurde zu einem „Städtischen“. Und weil seine Augen über die Köpfe der meisten Mitbürger blicken konnten, wurde dieser naturgegebene Vorteil von seinen Vorgesetzten erkannt und  genutzt. Goliath wurde zum kommunalen Hilfspolizisten ernannt. Er erhielt eine unauffällige blau-grau-brenzlige, uniformähnliche Dienstbekleidung mit einem Stadtwappen auf dem linken Ärmel seiner Jacke, eine digitale Apparatur zum Erfassen und Speichern von Daten und eine Mütze auf den Kopf.

In deutschen Landen wirkt ein Phänomen, eine unerklärliche, Naturgesetzen ähnliche Besonderheit, die ihren Ursprung in der nebulösen Vergangenheit der germanischen Volksstämme haben muss. Anders kann man es sich kaum erklären, dass eine unverständliche Metamorphose mit einem deutschen Mann geschieht, sobald man ihm eine Kappe, eine Mütze, einen Hut auf den Kopf setzt. Einzige Bedingung: die Kopfbedeckung muss, wie auch immer, zumindest tendenziell amtlich oder offiziell aussehen.

Sobald also dieses Kleidungsstück auf einem Männerkopf Platz genommen hat, geht ein Ruck durch den Körper. Derselbige streckt und versteift sich in der Vertikalen, und die Gesichtszüge nehmen einen Respekt heischenden Ausdruck an. Nun ist er Mann, nun darf er sein. Und zwar amtlich, mit Stempel, Aktenzeichen und Unterschrift.

Auch mit Goliath geschah diese Verwandlung. In seine offiziöse Tracht gekleidet schritt er nun tagein, tagaus mit strengem Blick durch St. Überall, prüfte kritisch die abgestellten Autos und Motorräder auf ihre Kompatibilität mit den Verkehrsschildern und verteilte im Sündenfalle kostenpflichtige Verwarnungen. Dabei, dies war er seinem Selbstverständnis schuldig, verhielt er sich gnadenlos und unbestechlich. Vor Gott und seinem gestrengen Blick  gab es keine Fürsten und Knechte, keine Unternehmer und Arbeiter, keine Bürgermeister und Amtsboten. Goliath kannte nur zwei Varianten: Sünder und Nichtsünder. Sagte er jedenfalls.

An allen Samstagen, so war es ihnen zu einer lieben Gewohnheit geworden, treffen sich der Chronist und seine bessere Hälfte, der alte Kumpel Zegges und die Seine sowie weitere, stets wechselnde St. Überaller alte Bekannte in „Wanni‘s Café“ neben dem „Roten Ochsen“. Man plaudert, tauscht Neuigkeiten aus und lässt es sich eine Weile unter Freunden gut gehen. Und Wanni serviert dazu den besten Espresso weit und breit. Auch Bürgermeister Grouilion schätzt den Unterhaltungswert des Cafés und verkehrt hier gerne mit Entourage, allerdings zu anderen Zeiten.

Durch die großen Fensterflächen hat man einen guten Ausblick auf das Straßengeschehen, man darf Voyeur sein und das vorbeirauschende städtische Leben beobachten. Eines Samstags, man saß wieder gemütlich zusammen und tauschte die neuesten Neuigkeiten aus, erschien plötzlich Goliath vor dem Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Gemessenen Amtsblickes schaute er erst auf die Straßenbeschilderung, dann auf die Reihe der parkenden Autos. Breitbeinig, wuchtig wie ein Himalaya-Klotz stand er da, seine Haltung war die eines Wyatt Earp. Lediglich Patronengurt und Colt fehlten.

Der Chronist hatte seinen Kleinwagen direkt vor dem Café geparkt, wohl wissend, dass er im absoluten Halteverbot stand. Nun, so dachte er, da Bürgermeister Grouilion ebenfalls stets an gleicher Stelle parkte und dies auch noch mit einem dicken Dienstwagen, sei das Parken am eigentlich verbotenen Platze sozusagen amtlich sanktioniert. Aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Sobald der Chronist  den demonstrativ prüfenden Blick Goliaths auf sein Autochen bemerkte, eilte er zur Tür hinaus, trat auf den Hipo zu, bekannte sich schuldig und bot einen Standortwechsel des Autos an.

„Awwa das ganz schnell“, willigte Goliath ein, „sonscht gebb’s e Knellesje“. Den Chronisten ritt der Teufel, ein ganz kleiner nur, aber das Kerlchen mit seinem Dreizack war für den Hilfspolizisten sehr wohl erkennbar. „Machen Sie dem Bürgermeister auch ein Knöllchen, wenn er ständig hier parkt?“ fragte der Chronist scheinheilig. Da schwoll aber die Brust des Amtsträgers an, die amtlich gebotene Objektivität seines Handelns sprang ihm sozusagen aus den Augen. „Ei das kannschde awwa glaawe, do gebbt’s nix, der kritt sei Schdroofzeddel genauso wie jeder annere!“ entrüstete sich Goliath.

Der Chronist hatte verloren, er spürte es. Also fuhr er sein Gefährt auf einen ordentlichen Parkplatz und freute sich, dass ihn Goliath mit einer mündlichen Verwarnung davon kommen ließ. Dachte er.

Eine Woche später kam er an, der Strafzettel. 15 Euro sollten berappt werden für „unerlaubtes Parken im absoluten Halteverbot“, so stand es auf der amtlichen Verwarnung.  Empörung kam beim Chronisten auf, er fühlte sich bitter getäuscht vom städtischen Hipo, hintergangen und betrogen. Er rief im städtischen Ordnungsamt, dem Domizil Goliaths, an, um diesem sein schändliches Verhalten vorzuwerfen. Aber nur ein Kollege meldete sich. Der Chronist schilderte ihm den Fall, beklagte sich über die mangelnde Fairness des Hipo-Kollegen und warf wiederum die Frage auf, ob denn auch der Bürgermeister bei ähnlichem Fehlverhalten mit der gleichen Sanktion rechnen müsste.

„Ei jo“, bekam er zur Antwort, „der gäng genauso offgeschrieb gänn wie die annere aach“. Der Chronist blieb hartnäckig. „Und er müsste auch seine 15 Euro löhnen, so wie jeder andere?“ fragte er nach. Kurzes Schweigen, dann meinte eine leicht verdruckste Kollegenstimme: „Jo gudd, offgeschrieb wird off jede Fall, was die nooher do im Ordnungsamt mit dem Zeddel mache …“, und der Rest des Satzes hüllte sich in ein aussagekräftiges Schweigen.


Krach am Bach

Lebt man auf dem Lande, weiß man in der Regel auch, weshalb. Sei’s die gute Luft, die vermeintliche oder echte Entschleunigung, der gegenüber größeren Agglomerationen bessere soziale Zusammenhalt oder die Ruhe in einer naturnahen Umgebung. So jedenfalls denkt man sich das.

Auch in St. Überall geht’s beschaulich zu, gebaut wurde und wird an der Peripherie, dort also, wo man seine Ruhe hat. Am östlichen Stadtrand lebt man in einem gut bürgerlichen Wohngebiet, das in den 50er Jahren neu bebaut wurde und sukzessive seine Erweiterung erfuhr. Mittlerweile sind die seinerzeitigen Bauherren und –damen in Ehren ergraut, junge Familien fügten sich ein, das Baugebiet entwickelte sich zu einem gewachsenen Stadtviertel. Nur wenige Minuten benötigen auch ältere Menschen, um  zu Fuß in den Stadtkern zu gelangen.

„Bosenbach“ nennt sich das Viertel. Einen Bach gibt es wohl , heute ist er allerdings nicht mehr zu erblicken, man hat ihn in Röhren unterirdisch versteckt.  Etwas verträumt liegt ein Sportfeld mitten im Viertel, es ist mit den Anwohnern alt geworden und dient heute nur noch Hobbymannschaften als Kick-Basis.

Im „Tageblatt“ stand dann eines Tages die unverfänglich erscheinende Meldung „Großes Open-Air zieht um nach St. Überall“. Angepasst an vermeintliche oder echte  Wünsche und Vorgaben aus dem Rathaus bemüht man sich bei der Tageszeitung stets, den vorauseilenden Gehorsam munter galoppieren zu lassen und die Segnungen des Bürgermeisters und seiner Verwaltung der geneigten Leserschaft nahe zu bringen. So auch hier.

Bürgermeister Nickel Groulion wurde interviewt, mit seiner üblichen Kraftmischung aus Selbstdarstellung und Superlativen verkündete er, St. Überall werde nun ein Open-Air veranstalten, wie es die Welt, ach was: das Universum noch nicht erlebt habe. Drei Tage lang würden Zehntausende von Menschen in’s Städtchen pilgern und Unmengen an Kaufkraft in die Geschäfte tragen. Und den Ruf der Stadt in alle Welt. Oder so ähnlich. Im „Bosenbach-Stadion“ solle die Kulturveranstaltung stattfinden, eine besser geeignete Kulturstätte werde man weit und breit nicht finden, so der Bürgermeister. „Meine Stadt“, so Groulion frei nach Hänschen Rosenthal „ist bei allem und jedem einfach Spitze.“

Einige Anwohner begannen, den Braten zu riechen. Man hatte noch gut die frühen achtziger Jahre in Erinnerung. Damals waren in dem kleinen ehemaligen Stadion einige Rock-&-Pop-Open-Airs  mit über 20.000 Besuchern gelaufen. Mit allem, was zu solch einer Großveranstaltung gehörte: drei Tage lang bis in die tiefe Nacht Phonstärken, die rote Ohren verursachten, Menschenmassen, die die Vorgärten zertrampelten und teilweise unter „Wasser“ setzten, der dazu gehörende Geruch und am Ende natürlich die Hinterlassenschaft der rockigen Gemeinde.

Langsam, auch ohne die Berichterstattung des Tageblatts, sickerte es durch. Das Open-Air-Festival „Rock am Bach“ gab es bereits seit etlichen Jahren, allerdings an anderen Stätten und ursprünglich in derTat an einem Bach gelegen. Näher betrachtet handelte es sich um knochenharten Rock von der trashigen Sorte mit einer in der Tat umfangreichen Fangemeinde. Nachdem die Veranstaltung an zwei weiteren Orten unbequem geworden war und die dortige Bevölkerung sich gegen eine Neuauflage erfolgreich  zur Wehr gesetzt hatte, suchten die Veranstalter ein neues Zuhause. Und fanden es bei Meister Groulion, der sich Ruhm, Ehre und die Festigung seines Rufs als großer „Macher“ versprach. Nun ja, er selbst wohnt nicht im östlichen Stadtteil St. Überalls, er lebt einige Kilometer weiter in einem kleinen Vorort des Städtchens. Ein Schelm, der Böses dabei denkt.

So kam also das Wochenende der Phonstärke heran. Heerscharen von Hardcore-Rockern hielten Einzug, Schwarz war die dominierende Modefarbe. Grimmigen Angesichts  und mit viel Eisen behaftet, meist in -natürlich schwarzen- Knobelbechern steckend trudelten sie ein, besetzten ein Plätzchen auf der nahen Wiese und schlugen ihre kargen Zeltchen auf.  Zwar schauten sie recht grimmig aus der schwarzen Wäsche, aber nahezu alle waren friedlich und taten keiner Fliege etwas zu Leide. Soweit so gut.

Über 12.000 Black-Metal-Fans bevölkerten die Szenerie des Städtchens und freuten sich an der Musik ihrer Helden. Und die legten natürlich los, wie es sich für ein ordentliches Open-Air gehört. Phonschwaden durchzogen St. Überall, selbst am anderen Ende der Stadt klingelten den Anwohnern abends und nachts die Ohren. Natürlich bekamen die Anwohner im Bosenbach-Viertel die Metal-Nächte direkt und unverfälscht mit, sie hatten die besten Plätze erwischt. Aber nicht alle waren unbedingt froh über diese spezielle Art von verordnetem Kulturgenuss…

Und der Kaufkraftgewinn, den der Bürgermeister im Vorfeld so nachhaltig gepriesen hatte? Mal ein Mittagessen oder ein Frühstück fiel für die einheimische Gastronomie ab. Mehr nicht. Kein Modegeschäft setzte mehr als üblich um, keiner der schwarzen Mannen wollte sich eine weiße Hose kaufen, niemand von all den jungen Leuten hatte überflüssiges Geld in der Tasche. In der Regel wurden Eltern oder Großeltern um das Eintrittsgeld angebettelt, die Benzinkosten teilte man sich mit Mitfahrern und die Sixpacks samt fester Verpflegung brachte man sich von zu Hause mit. Kein Geschäftsmann, nicht einmal McDonalds wurde reich über die Tage.

Danach musste das Schlachtfeld aufgeräumt werden. Vorgärten wurden entrümpelt, die zum Campingplatz degradierte Wiese wurde gekämmt, Hinterlassenschaften des natürlichen menschlichen Stoffwechsels mussten beseitigt werden. Wie immer taten dies städtische Mitarbeiter des Bauhofs, natürlich für den Veranstalter kostenlos. Man hat’s ja im Stadtsäckel, die Steuerzahler halten immer brav still.

Und was lernen wir daraus? Derartige Großveranstaltungen müssen an Orten stattfinden, die speziell für eben solche Events ausgestattet sind. Großhallen, abseits gelegene Stadien mit bereits vorhandener Infrastruktur oder unbewohnte Gegenden wie Flugplätze sind geeignete Stätten für derartige phonstarke und massentaugliche Happenings. Ein Wohngebiet auf dem flachen Land ist der wohl denkbar ungeeignetste Ort dafür.

Aber nicht bei Nickel Groulion, dem großen „Macher“ und Zampano, dem „Master of Universe“. Wenn’s denn dem eigenen Ruhm dient, wird alles an Veranstaltungen durchgezogen, was das Leben so zu bieten hat. Und wer dabei den Tinnitus erwischt, ist selbst Schuld daran. Hätte halt weghören sollen ….


Krokodiltränen und Neidhammel

Gerade wieder hat der St. Überaller Rathauschef sein Lieblingsthema  im Tageblatt aufgegriffen: zuviel verdienen würden die Sparkassenvorstände und außerdem sei ihre Gehaltsstruktur nicht transparent genug. Der Chronist hat bereits vor einiger Zeit unter der Überschrift "Der Großgeldverdiener" Neues dazu mitgeteilt (siehe weiter unten). Anstatt einen Leserbrief zum Thema an das Tegblatt zu schicken  -der ja dann mit einiger Sicherheit gekürzt und stromlinienförmig gemacht würde- soll dieser nicht abgeschickte Leserbrief nun hier erscheinen:

„Geh fort!“ würde Heinz Becker sagen und sich seinen Teil denken. Dicke Krokodilstränen des St. Überaller Bürgermeisters rinnen, wenn er sich über die exorbitanten Einkünfte von Sparkassenvorständen beklagt. Vor einigen Jahren bemühte sich der Rathauschef selbst um einen Posten als Sparkassen-Vorstand in St. Überall.  Allerdings hatte dann ein CDU-Parteifreund bei der Besetzung die Nase vorn. Natürlich sollten semi-öffentliche Gehälter für die Bevölkerung transparent gemacht werden. Aber in einem betriebswirtschaftlichen Unternehmen mit Gewinnerzielungsabsicht bestimmen nun einmal die dafür gewählten Gremien die Höhe der Vorstandsgehälter. Wenn der Bürgermeister selbst vor einigen Jahren einen Vorstandsposten hätte ergattern können, würde man heute keinen Ton der Kritik von ihm hören. Also unter dem Strich nicht anderes als eine klassische Neiddebatte. Wie gesagt:  „Geh fort!“



Die "Rennstadt"

Nun wissen wir’s, was wir bisher nicht wussten. Wir St. Überaller sind Bürger einer richtigen „Rennstadt“. So jedenfalls schallte es einem aus dem Radio entgegen, kurz vor den stündlichen Nachrichten in den Werbeminuten.

Nun kennt man ja Rennmäuse, Rennbahnen oder Rennräder, manchen Mitmenschen sagt man nach, sie hätten, so jedenfalls der Volksmund, „einen rennen“. Aber eine Rennstadt? Wie soll das funktionieren? Müssen wir nun all unsere Gänge in’s Städtchen im Sprinttempo absolvieren?

Die St. Überaller Rathausbewohner hatten im Saarländischen Rundfunk einen Werbespot geschaltet, in dem für eine an sich pfiffige Veranstaltung geworben wurde. An diesem Wochenende lässt man eine alte St. Überaller Tradition wieder aufleben, die sich in den 50er und 60 Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt hatte. Damals rief ein im Motorsport engagierter Bürger St. Überalls ein Motorradrennen ins Leben, das auf einem Rundkurs durch’s Städtchen und an der Peripherie  ausgetragen wurde.

Im Lauf der Jahre erhielt das Rennen immer mehr an Bedeutung, es zählte schließlich zu den Weltmeisterschaftsläufen, und die Großen der Branche gaben sich die Klinke in die Hand. Namen wie Luigi Taveri, Jacques Collot, Jim Redmann oder Willi Scheidhauer gingen uns Buben seinerzeit ganz selbstverständlich über die Lippen.

Und es flimmerte immer eine eigenartige Stimmung in den Tagen rund um das Rennen durch die Stadt. Aufgeregt war man, voller Vorfreude, die Jungen wie die Alten. Strohballen wurden an Laternen und Hinweisschildern befestigt, Auslaufzonen frei geräumt und Fußgängerbrücken  vom Technischen Hilfswerk über die Straße gebaut. Wir Jungs befestigten an den Speichen unserer Fahrräder mit einer Wäscheklammer ein Stück Pappe, das beim Fahren in die Speichen griff und ein eigenartiges, rätschendes Geräusch erzeugte. Für uns war das der Sound einer Motoguzzi oder einer Kreidler, und wir waren Jim Redmann oder Luigi Taveri.

In diesem Jahr ist es 61 Jahre her, dass die heißen Kisten zum ersten Mal über den St. Überaller Stadtkurs flitzten. Und nun gibt es seit vergangenem Jahr ein nostalgisches Treffen der damaligen Kämpen, so sie noch unter uns weilen. Ein Kreis von Motorrad Begeisterten hat mit Hilfe der Stadtverwaltung die Chose organisiert, der alte Stadtkurs, soweit nicht umgebaut, wird noch einmal von den Oldtimer-Krädern befahren, und viele Zeitzeugen schwelgen wieder in Erinnerungen .

Und aus dem Radio klang die Werbung: „Bürgermeister Nickel Groulion und sein Team erwarten Sie am kommenden Wochenende“, oder so ähnlich. Nanu, fragt man sich,  besitzt der Rathauschef ein eigenes Team? Fährt er mit? Wenn ja, auf welcher Maschine? Welchen Namen trägt sein Team? Konnte das Team Sponsoren anwerben?

Nichts dazu wurde im Radio erzählt. Im Neusprech heißt so etwas „anteasern“, man will die Hörer ein wenig mit Halbfakten anfüttern, auf dass sie neugierig werden und den Weg nach St. Überall antreten. Na gut, wir werden auf all diese Fragen am Wochenende Antworten erhalten. Dann werden wir wissen, wer und was sich hinter dem „Team“ des Bürgermeisters verbirgt.


Früher war alles besser ….

Das Thema kocht bundesweit hoch. Die Diskussion über körperliche Züchtigung und sexuellen Missbrauch von Schutzbefohlenen in kirchlichen und weltlichen Schulen und Heimen hat auch die Provinz erreicht. Dabei geht es einerseits um die persönliche Schuld Einzelner, um Pädagogen und Priester, die ihnen anvertraute Kinder sexuell missbraucht oder Ihnen Gewalt angetan haben. Andererseits muss der Zeitgeist betrachtet werden, der noch vehement aus der Zeit des Nationalsozialismus in die fünfziger und sechziger Jahre hinüberschwappte.

Natürlich war St. Überall keineswegs eine Insel der Seligen. Auch hier erfuhren Kinder Gewalt, auch hier gab es genügend Hinweise auf sexuellen Missbrauch von Kindern. Dem Chronisten, der selbst in dieser Stadt aufwuchs und als direkt Nachkriegsgeborener die Segnungen der Adenauer-Ära miterleben konnte, sind Beispiele aus jener Zeit in Erinnerung.

Um die Jahrhundertwende hatten Steyler Missionare in St. Wendel eine Dependance ihres Ordens gegründet, im Volksmund „Missionshaus“ oder „Heiliger Berg“ genannt. Im Lauf von Jahrzehnten entstand dort eine Ausbildungsstätte für angehende Missionare. Sozusagen als Produktions-Vorstufe für die angehenden Glaubensboten wurde zusätzlich ein Gymnasium mit einem angegliederten Internat gegründet. Dorthin schickten auch auf Reputation bedachte einheimische Familien, natürlich durch die Bank fromme Katholiken, ihre Jungs und in späteren Jahren auch ihre Mädels, um sie zu ordentlichen und gebildeten Menschen formen zu lassen.

Zu einem ordentlichen jungen Menschen männlichen Geschlechts gehörte nach der seinerzeitigen Vorstellungswelt auch das ehrenamtliche Engagement als Messdiener. Nach den obligaten Messdienerstunden war es an warmen Sommertagen üblich, gemeinsam mit den Freunden das alte Freibad der Missionare, das leicht versteckt in einem kleinen Wäldchen lag, aufzusuchen, über den maroden Zaun zu klettern und dort in der Dämmerung zu plantschen. Natürlich nackt, die Eltern durften davon nichts wissen und die Missionare erst recht nicht. Und für zwölf- bis fünfzehnjährige Jungs kam natürlich der Reiz des Verbotenen hinzu.

Was damals schon auffiel: erst nachdem das Treiben so eine halbe Stunde oder länger stattgefunden hatte und es allmählich dunkel wurde, kam immer wieder eine Stimme aus dem Gebüsch, die den Messdienern Schlimmes androhte, wenn sie nicht sofort den Tatort verlassen und ihre Sünden beichten würden. Was natürlich regelmäßig dazu führte, dass alle kleinen Sünderlein rasant ihre Kleidungsstücke an sich rissen und erst einmal das Weite suchten, um sich dann wieder zivilisiert anzukleiden. Wenn man heute zurück denkt und sich die seinerzeitige Situation durch den Kopf gehen lässt, liegt die Vermutung wahrlich nicht weit, dass sich ein voyeuristischer Missionar an dem Treiben der nackten Jungs delektierte und seine päderastischen Neigungen bediente.

An dem gleichen Gymnasium pfropften nicht nur fromme Missionare die Schüler mit gediegenem Wissen voll, auch „ungeweihte“ Lehrkräfte erteilten dort Lektionen. Der Chronist erinnert sich an einen Fall, der seinerzeit für einiges Aufsehen sorgte, aber ganz dem damaligen Zeitgeist entsprechend mehr oder weniger unter den Teppich gekehrt wurde. Was nicht sein darf, das nicht sein kann.

Ein Lehrer, der natürlich praktizierender Katholik und recht angesehen war,  wurde wohl angeklagt, sich an jungen Mädchen vergangen zu haben. Natürlich hörte man dazu nichts von irgendeiner öffentlichen Institution, über „solche Sachen“ sprach man in der Adenauer-Ära nicht, man schwieg sie tot. So sprach sich der Sündenfall nur langsam unter der Bevölkerung herum, nichts Genaues wusste angeblich Niemand. Dann wurde dennoch ruchbar, dass der Pädagoge verurteilt worden war. Aber man entfernte ihn nicht aus seinem Amt; nach einer Anstandsfrist und einigen Jahren, in denen Gras über die Sache gewachsen war, fand man den Lehrer in einem politischen Ehrenamt wieder, das er dann lange Jahre bekleidete.

Auch ein weltliches Gymnasium formte in St. Überall die jungen Leute, das „Gymnasium Humanisticum“. Natürlich ganz im Sinne des Zeitgeistes, den die Lehrerschaft über lange Jahre hin noch aufrecht erhielt. In den fünfziger Jahren, unmittelbar nach Ende des Weltkriegs, und auch noch in den sechziger Jahren gestaltete es sich schwierig, ausgebildetes Lehrpersonal zu finden. Der Krieg verschlang Männer ohne Ende, auch Pädagogen blieben davon nicht verschont und weibliche Lehrkräfte gab es an traditionell ausgerichteten Knabengymnasien so gut wie keine.

Und so unterrichteten diejenigen, die der Krieg übrig ließ, die jungen Leute, alte pädagogische Haudegen eben. Der Lateinlehrer war über 80 Jahre alt, im gleichen Alter stand der Mathematik- und Physik-Lehrer. „Googert“ nannte man den Biologielehrer, er war von ganz besonderer Art. Als überzeugter Nazi standen bei ihm Zucht, Ordnung und Deutschtum an oberster Stelle auf der Skala der zu vermittelnden Tugenden. „Ein deutscher Junge kennt keinen Schmerz“ war einer seiner beliebtesten Sprüche. Und so prüfte er die Schmerzfreiheit seiner Jungs ständig und nachhaltig. Backpfeifen, Prügel mit dem Rohrstock und von ihm verfügte Selbstanklagen straffällig gewordener Schüler bestimmten den schulischen Tagesablauf. Eine seiner Spezialitäten: ein unwissender Schüler wurde an das entfernte Ende des Schulhofs geschickt, dort musste er quer über den Hof brüllen, so dass es die gesamte Schülerschaft mitbekam: „Ich bin der blödeste und dümmste Esel an diesem Gymnasium!“

Eine besonders perfide Rolle spielte ein katholischer Religionslehrer und Geistlicher, dessen Name hier nicht genannt werden soll. Klein und kugelrund von Gestalt verbreitete er erst einmal eine Aura von Gemütlichkeit um sich. Aber der fromme Mann war ein Sadist und Quälgeist, der seine ihm anvertrauten jungen Leute nach allen Regeln der Kunst körperlich züchtigte. Seine Spezialität: er kniff mit seiner Fleischerhand einen „Sünder“ in die Wange, zog ihn dabei langsam von seinem Sitzplatz hoch und knallte ihm urplötzlich eine knochenharte Backpfeife herunter. Vor ihm fürchteten sich die Schüler mit am meisten. Möge Gott ihm ungnädig sein ...

Nicht alle Pädagogen verstiegen sich zu solchen Auswüchsen. Aber so ziemlich alle waren doch -nolens volens- den alten Erziehungsidealen der braunen Vergangenheit verhaftet. Erst die nachfolgende Generation junger Referendare durchbrach diese Grundhaltung, sie brachten Transparenz, Nachvollziehbarkeit und einen Schuss Schülermitbestimmung in das St. Überaller Gymnasium Humanisticum.

Mit Sicherheit wurden eine Menge Schüler unter diesen Bedingungen, bei Anwendung von Gewalt, Drohungen und knochenharten Sanktionen psychisch verbogen und zu unnötigen Kurven auf ihrem weiteren Lebensweg gezwungen.

Dies alles gab es nicht nur anderswo; auch im eigenen Lebensumfeld , in der "Provinz", waren Missbrauch und Gewalt durchaus nichts  Unbekanntes.


Die Großgeldverdiener

Nun haben wir es schwarz auf weiß: die Banker verdienen viel zuviel Geld. Nicht nur die Ackermanns, sondern auch biedere Provinzfürsten der kleinen ländlichen Kreissparkassen machen sich die Säcke so voll, dass sie nicht mehr laufen können. Jedenfalls sagt das der St. Überaller Bürgermeister Nickel Groulion. Und der muss es nun wirklich wissen: er sitzt im Verwaltungsrat der St. Überaller Kreissparkasse und hat also den großen Durchblick auf deren Managergehälter.

Im Tageblatt, auf der großen ersten Seite, lässt er sich zitieren, so könne das nicht weiter gehen. Kleine Vorstandsmitglieder kleiner Regionalbanken verdienten mehr als die Bundeskanzlerin. Das könne man dem kleinen Mann nicht mehr vermitteln, da müsse die Landesregierung ernsthaft ein Gesetz dagegen machen. Er wird Beifall erhalten, es wird keinen deutschen Stammtisch geben, der ihm widersprechen wird.

Einmal davon abgesehen, dass keine Regierung per Gesetz in das Gehaltsgefüge von betriebswirtschaftlich organisierten Unternehmen eingreifen kann: nach 28 Jahren (!) seiner Tätigkeit im Verwaltungsrat der örtlichen Kreissparkasse kommen dem Meister der St. Überaller Bürger nun plötzlich Zweifel an der Angemessenheit der Vorstandslöhne. Benötigt ein Mensch mit klarem Verstand einen derart langen Anlauf, um dann erst, nach 28 Jahren, zu springen?!

Der Chronist erinnert sich. Vor wenigen Jahren war die Stelle des Vorstandsvorsitzenden der St. Überaller Kreissparkasse neu zu besetzen. Natürlich wurde der Posten in Hinterzimmern verschachert, wie üblich sollte ein braver Parteisoldat der absoluten Mehrheitspartei mit der Nachfolge entlohnt werden. Da hörte man auf einmal, der gute Bürgermeister Groulion habe großes Interesse an dem Job. Man sagte ihm eine gewisse Amtsmüdigkeit nach, in der Tat kein Wunder nach mehr als 20 Jahren auf dem Chefsessel im Rathaus. Er ist auch von Hause aus Jurist, und Juristen können ja bekanntlich alles, also auch Kreissparkassenvorstände leiten. Und weiterhin wurde kolportiert, ihn locke das Gehalt eines Sparkassen-Managers, das schon damals locker die dreifache Höhe eines Rathauschef-Salairs erreichte.

Nun, aus der Sache wurde nichts. Ein gewiefter Bankkaufmann aus den eigenen CDU-Reihen, Joseph Nix mit Namen, der sich in der Partei Meriten verdient hatte, kungelte um Einiges besser und machte das Rennen. Nichts wurde es für Nickel Groulion mit dem Eintritt in den Kreis der Top-Verdiener. Das mag gegrollt haben im Bauch des Bürgermeisters, sicher nicht wenig. Vom Neid  über Groll bis hin zur Rache ist der Weg nicht allzu weit. Natürlich musste der gewiefte Taktiker -das muss ihm der Neid lassen- noch eine angemessene Zeit verstreichen lassen, bevor er das Rachebeil schwingen konnte. Nun schien es soweit zu sein, die Diskussion um Manager-Gehälter, Boni und sonstige Vergünstigungen im Geldgewerbe lief auf Hochtouren, die Stammtische hatten sich heiß geredet.

So startete Nickel Groulion  -der Furchtlose, der Macher, der Unkonventionelle- seine Philippika gegen die bösen Buben aus der Abteilung "Pleiten und Pannen" und konnte sich dabei des Schulterklopfens der kleinen Leute sicher sein. Wäre Groulion vor ein paar Jahren Vorstandsvorsitzender der St. Überaller Kreissparkasse geworden, hätte er wohl kaum sein Monatssalär öffentlich als unangemessen beklagt oder freiwillig auf einen Teil verzichtet. Wetten, dass?

Natürlich wurden Stimmen aus der Politik laut, Freund und Feind kommentierten den Rundumschlag Groulions. In den eigenen Reihen empfand man keine allzu große Freude über das Vorpreschen des Rathauschefs, Kritik an dessen Äußerungen kam auf. Und wie immer, wenn es in der Öffentlichkeit brenzlig wurde, konnte man auch diesmal im Tageblatt lesen: "Der Bürgermeister war für eine Nachfrage nicht zu erreichen." Einer von den oppositionellen Garde meinte achselzuckend: "So isser halt, da kannst'e nix machen."


Zitty-Manager:   die Fortsetzung

Na also, da ist er ja, der allerneueste Zitty-Manager! Da hatte man schon gedacht, die Kette sei abgerissen, die heiße Luft sei raus. Seit dem Abflug des Zitty-Piloten Christian nach Mainz hörte man nichts mehr vom Zitty-Management in der quirligen Metropole St. Überall.

Immer wieder stellten die Rathaus-Gewaltigen in der Vergangenheit neue Marketing-Spezialisten vor, über die sie wahre Wunderdinge erzählten und die in ihrer Person die Fähigkeiten von Spiderman, Superman und Dieter Bohlen vereinten. Sagten jedenfalls die Rathäusler. Nach „Zitty-Manager“, „Zitty-Pilot“, „Zitty-Broker“ und „Expansionsberater“ beginnt die Schleife nun allem Anschein nach wieder von vorne. Nun sitzt wieder ein „Zitty-Manager“ am Hebel.

Im  Tageblatt wurde er vorgestellt, Max heißt er, und mit ihm kommt der Frühling und die Jugend. 26 Jahre hat Max auf dem Buckel, das zeugt von großer Erfahrung. Und wieder werden die Posaunen im Rathaus ausgekramt, sie künden von großen Vorhaben des neuen Zitty-Managers in der Stadt des Heiligen Überall. Zum Beispiel sollen „Kundenwünsche erfasst werden“, zitiert das Tageblatt die Verwalter. Nanu, wundert man sich, etwas ganz Neues? Was haben denn die guten Kaufleute in der Innenstadt bisher veranstaltet? Sich etwa nicht die Wünsche ihrer Kunden angehört? Kaufleute seien doch Profis, sagt man.

Und „über die Kundenströme in der Innenstadt“ will er mehr erfahren, so steht’s im Tageblatt geschrieben. Im Frühjahr soll eine „Passantenzählung“ erfolgen. Einen normalen Samstag-Morgen in der St. Überaller Zitty stelle man sich vor. Man zählt mit „…sechs, sieben, acht … fünfzehn“. Etwa so viele Personen bilden die Samstag-Morgen-Käuferschicht in der Hauptstraße und dem angrenzenden Zentralplatz, Max muss nicht lange zählen.

Aber so ganz schlicht darf’s dann doch nicht sein mit den Methoden des neuen Zitty-Managers in der Metropole St. Überall. All das klingt irgendwie zu bieder, andere Städte machen das wohl auch so, wo bleiben da Superlativ und Weltläufigkeit? „Nur keine Panik“, würde der Hamburger Schlacks mit dem schwarzen Hut und der Sonnenbrille lässig sagen, „das kriegen wir locker hin.“

Und so tönt es denn aus dem Rathaus: einen „Kundenmonitor“ wird es geben. Das gemeine Volk staunt. Hatte man doch bisher immer geglaubt, einen Monitor benötige man etwa samstags zum Betrachten der Bundesliga-Berichterstattung im Fernsehen oder zur Überprüfung elektronischer Apparaturen. Nun klären uns die Wissenden aus der Verwaltungszentrale auf: mit einem Monitor kann man anscheinend auch auf Kundenjagd gehen. Geschrieben steht es im Tageblatt, der Neue wird sich einen „Kundenmonitor“ besorgen.

Und so wird er sich dann im Frühjahr auf die urbane Pirsch begeben, unser frisch gebackener Zitty-Manager. Max wird mit seinem Monitor hinter Kaufunlustigen herjagen und sie mit dessen Suggestiv-Strahlung in die Einzelhandelsgeschäfte in der Hauptstraße nötigen. Er wird mit der Kraft des Monitors Kneipengänger zwingen, immer wieder „Noch ein Pils!“ zu rufen, bis der Umsatz stimmt. Und wenn das alles erfolgreich läuft -woran kein Zweifel erlaubt sein wird-, werden sich Bürgermeister Nickel Groulion und die Seinen wohl einen zweiten Monitor zulegen….




Die Krühlstraße

St. Überallls Stadtkern kündet täglich, stündlich davon: die noch aktiven Geschäfte wenig frequentiert bis leer, der Zentralplatz gähnt in seiner ganzen Schönheit vor sich hin, Menschen -also Käufer- sind Mangelware. Besonders in der kalten Jahreszeit, wenn nicht gerade der ansonsten wirklich schöne Weihnachtsmarkt die Menschen anzieht. Und die kalte Zeit dauert nun einmal so um die fünf Monate an.

Noch schlimmer sieht es in einer dem Stadtkern nahe gelegenen Geschäftsstraße aus. In der Krühlstraße tummelten sich vor einigen Jahrzehnten noch die Menschen, kauften beim Metzger ihre Wurst und suchten sich beim Malermeister ihre Tapeten aus. Handel und Wandel blühten durchaus in dem Straßenzug, der damals noch stark bevölkerte nahe Stadtkern wirkte sich belebend auf den Nachbarbereich aus.

Heute stehen jede Menge Geschäfte leer, Schaufensterhöhlen begegnen den wenigen Passanten unfreundlich, Verkehr herrscht nur auf der Durchgangsstraße. Man könnte meinen, die vorbei huschenden Autos hätten es eilig, die Straße möglichst rasch durchzuhasten.

Doch die Krühlstraße wehrt sich. Die Stadtverwaltung, diesmal weniger schläfrig,  goss die Neuentwicklung des Straßenzugs in eine Modell, das von der Bundesregierung kräftig bezuschusst werden soll. Ansonsten ist man es ja in St. Überall gewohnt, ständig marktschreierische Ankündigungen aus dem Rathaus zu hören. Denen dann kaum oder überhaupt keine Taten folgen. „Der Berg kreißte – und gebar eine Maus“ fällt einem dazu ein.

Diesmal nehmen die Anwohner der Krühlstraße die Sache in die eigene Hand. „Wir sind die Krühlstraße!“ heiße das selbstbewusste Motto, unter dem sich Geschäftsleute und Eigentümer aus dem Straßenzug zusammentaten. Sie wollen -und sollen- ihre Fassaden neu gestalten, ebenso neue Geschäftsideen umsetzten und eine engere Zusammenarbeit zwischen Eigentümern und den Kaufleuten anstreben.

Und damit das Ganze auch am Laufen bleibt, hat man – ja was hat man? Natürlich -wir sind ja in Deutschland- einen Verein gegründet, der auf den wunderschönen Namen „Eigentümer-Standortgemeinschaft Krühlstraße“ getauft wurde. Trotz des Namen-Bandwurms soll die 08-15-Methode eingepackt bleiben, man hat sich der Mitarbeit von Saarbrücker Hochschulstudenten und Dozenten versichert. Und das soll Kreativität bei der Neuorientierung einbringen.

Nicht schlecht, kann man denken. Mit den Studenten dürfte ein kräftiges Stück Unvoreingenommenheit dazu kommen,  unbekümmerte junge Leute sind halt immer ein Stück näher am Puls der Zeit als alte Fahrensleute. Auch ein Friedensreich Hundertwasser verstörte mit seinen innovativen Ideen und deren Umsetzung die Seh- und Lebensgewohnheiten seiner Zeitgenossen. Letztlich überzeugte er sie aber und konnte große Erfolge verzeichnen.

Nun denn, am nächsten Sonnentag, so er denn kommen mag,  wird der Chronist mit seiner Kamera die Krühlstraße aufsuchen und ihren momentanen Zustand dokumentieren.  Vielleicht befindet sich unter den Studenten ja ein neuer Hundertwasser, ein Tausendsassa, der uns und den Mitgliedern der „Eigentümer-Standortgemeinschaft Krühlstraße“ einen völlig neuen Straßenzug bescheren wird.



Die Bürgermeisterwahl

Das nächste Jahr beginnt in St. Überall mit einer Bürgermeisterwahl. Im Januar werden die Bürgerinnen und Bürger der kleinen Stadt an die Urnen wandern und ihren Meister wählen. Nach 28 Jahren im Rathauschefsessel will es Bürgermeister Nickel Groulion noch einmal wissen und sich für weitere acht Jahre in seinem Amt bestätigen lassen.

Bei der letzten Wahl vor acht Jahren hatte er keine Konkurrenz, diesmal ist das anders. Eine junge, durchaus sympathische und kecke Sozialdemokratin fordert den „Dino“ heraus. Groulion war mit seiner Partei bisher Prozentergebnisse der Strauß'schen CSU gewohnt, das letzte Mal waren es über 60 Prozent. Da wird es der jungen Lady nicht leicht fallen, sich gegen den Hofverteidiger durchzusetzen.

Trotz dieser Vorzeichen: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, wird sich der Rathauschef gedacht haben und sorgte  auf seine Weise vor. Nachdem er bereits vor einigen Monaten einen vergleichenden Bildband über die St. Überaller Kernstadt auf Kosten der Steuerzahler heraus gegeben hatte (siehe weiter unten), nimmt er nun das Bibelwort „Gehet hin und tuet desgleichen“  wörtlich – und gibt einen zweiten Bildband heraus. Der soll 25 Jahre (!) an Entwicklungen in den 15 Stadtteilen dokumentieren. „Schaut her“, soll die Groulionische Botschaft lauten, „schaut her, was ich alles im letzten Vierteljahrhundert für die Stadt und ihre Ortsteile getan habe.“

Gegen eine ordentliche, von neutraler Seite herausgegebene Dokumentation, die im üblichen Buchhandel erscheint, ist ja nichts einzuwenden. Aber wenn der Bildband, wie die Tageszeitung berichtet, „... im Vorzimmer des Bürgermeisters im Rathaus“ zu einem Preis von 2,-- €uro zu erwerben ist, hat die ganze Chose doch ein kräftiges „Geschmäckle“, wie die Schwaben sagen würden.


Der Expansionsberater

Ab diesem für Deutschland so geschichtsträchtigen Tag soll nun wieder über Neues aus der Zitty berichtet werden. Nicht nur die Berliner Mauer wurde vor 20 Jahren umgestoßen, am 9. November 1938 brannten die braunen Horden Synagogen nieder und mordeten Menschen, die anderen Glaubens waren.

Zuvor, am 9. November 1918, führte die so genannte „Novemberrevolution“ in der Endphase des Ersten Weltkriegs zum Ende des Deutschen Reichs und zur Einführung der parlamentarisch-demokratische Republik. Kaiser Wilhelm II. verkrümelte sich ins niederländische Exil.

Und am 9. November 1923 versuchten der spätere Massenmörder Adolf Hitler und der Wehrmachtsgeneral Erich Ludendorff gemeinsam, die Regierung zu stürzen und durch eine faschistische Diktatur zu ersetzten. Was später in entsetzlicher Weise gelingen sollte, blieb seinerzeit erfolglos.

Item ist dieser ominöse 9. November, auch „Schicksalstag der Deutschen“ genannt, in St. Überall ein Tag von Gewicht. Der Wochenzeitung konnte man entnehmen, dass an diesem Datum Großes geschehen wird. Eine Auszeichnung wird von der Stadtverwaltung verliehen, der „Zitty-Wirtschaftspreis“. Großes Fragezeichen bei dem Chronisten.

Die erste Vermutung: in der Stadt der Kneipen wird ein neuer Preis verleihen, und zwar in einer Wirtschaft. Aber nach einigem Nachdenken wurde die Idee schnell wieder beerdigt. Eine Assoziation „Wirtschaft - Kneipe “ wäre zu schlicht, da hätte schon ein weltläufigerer Name herhalten müssen, etwa „Catering-Center“ oder so ähnlich.

Die Wochenzeitung klärte auf. Gepriesen wird in zwei Kategorien, einmal das „Unternehmen des Jahres“ und zum anderen die „Existenzgründung/Neuansiedlung des Jahres“. Wer nun die beiden glücklichen Unternehmen sind, wurde aber von Bürgermeister und Verwaltung nicht aufgedeckt, da wird erst bei der Preisverleihung selbst das Tuch gelupft. „And the winner is ...“, so macht man das, „weltläufig samma“ hätte Harry Valerien wohl formuliert.

Und konsequent samma. Mit „Zitty-Manager“, „Zitty-Broker“ und „Zitty-Pilot“ hatten wir uns ja bereits ausgesöhnt, eine Ergänzung oder gar eine Steigerung war kaum noch denkbar.

Denkste. Ganz am Ende belehrt uns die Wochenzeitung vor der großen Verleihung: die Moderation des Award-Evenings übernimmt ein Herr Christof Nieder - der „Expansionsberater der Stadt“.

Irgendwie drängt sich einem der Eindruck auf, demnächst müsse es einen weiteren Neuzugang bei den Städtischen geben, natürlich einen, der „hochkarätig“ und „weltweit einmalig“ zu sein hat: den „Implosionsberater“.

Der Zitty-Pilot

Nun ist es amtlich: der Pilot ist zum Bruchpiloten geworden, er hat eine Bauchlandung produziert. Noch mit Datum vom 17. August 2009 wurde der St. Überaller City-Pilot (sprich: „Zitty-Pailed“) hier an dieser Stelle „lobend“ erwähnt. Christian heißt er, einen Nachnamen hat er auch. Die St. Überaller Geschäftswelt hatte ihn bestellt, und die Stadtverwaltung hatten ihn sogar als „Städtischen“ eingestellt.

Häme? Nein, nur Kopfschütteln über die "Heldentaten" in der Führungsetage des Rathauses.

Christian sollte nach vielen vergeblichen Anläufen der Rathausoberen nun endlich die Leerstände in den Geschäftshäusern der Zitty beseitigen. Er sollte neue Ideen bringen und die Innenstadt für Kauflustige und Kaufleute in ein Eldorado verwandeln. Neben reichlich Vorschusslorbeeren gab man ihm auch eine neue Funktionsbezeichnung: „Zitty-Pilot“ sollte er sein, den Stadtkern zu neuen, attraktiven Ufern steuern. Er kam nicht zum Ufer, er plumpste mitten in’s Flüsschen.

Im heutigen „St. Überaller Tageblatt“ steht es geschrieben, schwarz auf weiß: „Nach nur knapp drei Jahren verlässt Christian St. Überall. Der auf Stadtentwicklung spezialisierte Diplom-Ingenieur war erst Anfang des Jahres zum Stadtmarketing gewechselt.“ Der Mann scheint doch einigermaßen clever zu sein, er hat wohl die richtigen Schlüsse aus der St. Überaller Situation gezogen. Nach einigen „Zitty-Managern“ und „Zitty-Brokern“ scheiterte nun also auch der „Zitty-Pilot“ bei dem Versuch, einem Einbeinigen das Sprinten beizubringen.

Wie sollte das auch gelingen? Attraktiv ist die Innenstadt -wie beschrieben- fast nur noch für diejenigen, die das Ambiente der Kneipenszene und der Biergärten schätzen. In dieser Szenerie ist gut sein, da kann man sich ruhig niederlassen. Aber als „Einkaufsmeile“, wie die Innenstadt gerne großspurig von den Rathausoberen genannt wird? Einmal abgesehen von allem Anderen, eine Meile ist immerhin 1,6 Kilometer lang …

Eine Verkäuferin in einem Geschenke-Laden meinte dazu: „Von dähne ville Iihwenz do in de Schdadt han mir unn die annere iwwahaupt nix. Die Leit komme die Radfahrer gugge, drinkge unn esse ebbes unn fahre dann wedda hämm. Awwa ma därf joo nix sahn …“. Soweit Volkes Stimme; dem wäre nichts hinzuzufügen. In der Tat, welcher Radsportfan, der wegen eines sportlichen Ereignisses nach St. Überall kommt, kauft sich dann auch noch Hosen, Hemden oder Socken im Kaufhaus Louy?

Also wünschen wir Christian, dem Bruchpiloten, einen guten Flug in seinen neuen Wirkungsbereich, dort eine weiche Landung und viel Erfolg in seinem neuen Umfeld. Ins goldische Määnz soll’s gehen, hört man.


Wahlkampf in St. Überall

Wir haben Wahlkampf im Lande. Frau Merkel und Herr Steinmeier duettieren an der großen Medienfront, die zweite Politikergarnitur erobert Hallen und Säle, und das Fußvolk der Parteien müht sich bei der Wahlwerbung auf innerstädtischen Plätzen ab.

Man kennt das: Kinder werden mit Luftballons und Dauerlutschern beschenkt, Damen und solchen, die es werden wollen, drückt man rote Rosen in die Hand. Herren und Männer müssen sich mit einem Kugelschreiber begnügen. Vor einigen Jahren gab’s auch mal in der kälteren Jahreszeit einen selbst gebrannten Schnaps bei den Genossen. Gut gemeint, aber der Ausschank wurde rasch wieder eingestellt. Unter den örtlichen Freibiergesichtern hatte sich das Angebot schnell herum gesprochen, und die roten Wahlkämpfer mussten am Ende wankende Gestalten sicher nach Hause bringen.

Auch in St. Überall wird wahlgekämpft, Kampfstätte ist der Zentralplatz. Dort stehen sie dann an den Samstagen vor der Wahl brav nebeneinander an ihren Ständen und wollen ihre kleinen Wahlgeschenke an die Frau, den Mann und ans Kind bringen. Wobei die Wähler überhaupt nicht in Massen durch die Innenstadt strömen. Auf der anderen Seite der Bahngeleise, auf der grünen Wiese hingegen tummeln sich Abertausende von Wählern. Sie erstürmen dort die Supermärkte und lassen die Innenstadt mit ihren Wahlkämpfern schmählich im Stich.

Aber das juckt unsere wackeren Wahlkämpen nicht, sie tanzen halt mit den Mädels, die auf der Hochzeit sind. So wie heute Morgen. Einträchtig standen CDU, SPD und die Linken nebeneinander auf dem Platz, die Grünen und die ehemals Liberalen glänzten durch Abwesenheit. Die Roten verteilten ihre roten Rosen, sehr beliebt bei der Damenwelt. Eine alt gewordene Dame, der eine Rose überreicht wurde, war sichtlich gerührt und meinte: „Ach Gott, das do iss awwa scheen. Ich krien jo sonscht iwwahaupt nix meh geschenkt, unn Blume schon gar net.“  Da war auch der Chronist gerührt.

Die Genossen waren kreativ, sie hatten sich einen echten Hingucker ausgedacht. Ein Mitglied besitzt einen wunderschönen Oldtimer, einen niedlichen kleinen Fiat 500 ("Cinquecento“), so wie ihn sich die kleinen Leute vor 50 Jahren gerade leisten konnten. Den postierten die Roten neben ihrem Stand, mit einem Schild auch dem Dach „Wenn ich groß bin, wähle ich nur noch SPD“. Die Idee kam beim geneigten Publikum bestens an, zahlreiche Passanten beguckten sich den Kleinen und kamen dabei mit den Wahlkämpfern ins Gespräch.

Die dunkelroten Standnachbarn schmunzelten, die Schwarzen hingegen wurden offensichtlich vom bösen Neid gequält. So  kampflos konnte man nicht den Kürzeren ziehen, zumal anscheinend die Ankunft von Parteioberen angesagt war. Einem Landtagspräsidenten, dem Europaminister und seinem eigenen Bundestagsabgeordneten  konnte man sich doch nicht als nur zweiter „Wahlkampf-Sieger“ in der CDU-Hochburg präsentieren. In St. Überall gibt’s schwarze Mehrheiten von über 65 Prozent….

Da zockelte plötzlich, sozusagen aus dem Off, ein grün-gelb gefleckter älterer VW-Käfer um die Ecke, fuhr auf den Zentralplatz und postierte sich am Stand der CDU. Mit grimmiger und zutiefst entschlossener Miene entstieg ein schwarzer Wahlkämpfer dem Auto, kramte ein Schild hervor und platzierte es auf dem Käferdach. Darauf stand zu lesen „Wenn ich groß bin, wähle ich CDU“.

Alle umher Stehenden waren offensichtlich stark beeindruckt ob eines derart genialen Einfalls… So geht’s ab beim Wahlkampf in St. Überall.



Die Kneipenszene

„Oh komm, heit geh ma mo ähna drengke“. Genauso machen es zahlreiche Mitbürger. Nicht nur, weil sie Durst haben. Den zu löschen würde auch zu Hause funktionieren. Sie wollen vielmehr etwas erleben, Neuigkeiten erfahren, anderen Menschen begegnen und Neues weiter erzählen.

Das geschieht in der Stammkneipe ebenso wie im Biergarten oder an der saarländischen „Roschdwurschtbuud“. Es macht halt immer wieder Spaß, altbekannten Gesichtern zu begegnen, flippige junge Leute zu bewundern  oder auch manchem Griesgram hinterher zu schauen.

Kneipen und Biergärten für jeden Geschmack finden ihr Publikum, Jugendkneipen allemal, aber auch gestandene, traditionelle Wirtshäuser für jede Altersstufe. Solche traditionsreichen Gasthäuser, früher häufig Generationen hindurch in Familienbesitz, finden sich leider immer weniger. Man darf vermuten, dass dies mit dem Älterwerden der Kneipengänger zusammenhängt.

In jungen Jahren drängt es nun einmal den Menschen hinaus ins pralle Leben, Stubenhocker sind da eher selten anzutreffen. Wir man älter, kriegt man den Hintern nicht mehr hoch, Fernsehen, Bier und Knabberzeug geben einem den Rest. Also bleibt man zu Hause.

Natürlich besitzt auch St. Überall eine Kneipenszene, eine besonders ausgeprägte sogar. Zahlreiche Jugendkneipen locken ihr Publikum an, das auch aus der nahen und ferneren Region antrabt. An Schönwettertagen gleicht der Zentralplatz einem einzigen großen Biergarten, der jedem gestandenen Bayern die Augen leuchten ließe. Biker rasten hier gerne nach ihrer Ausfahrt, opulente Frühstücksgedecke gehen nahtlos in deftige Mittagessen über, und natürlich darf der obligatorische Prosecco nicht fehlen. Küsschen inklusive – dies ist man sich schließlich schuldig.

Am Kirchplatz die gleiche Szenerie, vielleicht etwas gediegener geraten als auf dem Zentralplatz. Auch hier nimmt man seinen gepflegten Espresso oder Crémant zu sich, schaut den Flaneuren zu und lässt sich selbst von ihnen betrachten. Das Altstadtambiente tut ein Übriges, man fühlt sich wohl, so lässt es sich leben.

Die traditionellen Gasthäuser, es gibt sie in St. Überall neben der Jugend- und Freiluftszene auch noch. Zwar nicht mehr allzu viele, aber einige wenige behaupten sich neben ihrer „jugendlichen“ Konkurrenz doch noch. Der „Bronzene Esel“, das älteste St. Überaller Gasthaus, musste vor wenigen Jahren dicht machen. Das Wirte-Ehepaar hatte seine Altersgrenze erreicht, und ein Nachfolger fand sich nicht. Also ging die Tradition zu Ende, das im 17. Jahrhundert erbaute Wirtshaus hatte ausgedient.

Neben dem aufgegebenen „Bronzenen Esel“ gibt es nur noch das ein oder andere  alteingesessene Wirtshaus, in dem man Alt und Jung quer durch alle Bevölkerungsschichten hindurch begegnen kann. Bei „Witchie“ trifft man sich ebenso wie in der „Veronika-Kapelle“ und in "Wanni's Café", allesamt gestandene St. Überaller Gasthäuser.

Einen besonderen Platz in diesem raren Genre nimmt der „Rote Ochse“ ein, das wohl authentischste Wirtshaus in der Zitty. Seit 1620 existiert das Haus und bietet heute seinen Gästen neben einer deftig-pfiffig-robusten Regionalküche viel positives Lebensgefühl.

"Wanni's Café" und "Roter Ochse" mit Sommergarten

Das beginnt mit dem „Outfit“. In der dem Lokal früher angegliederten Metzgerei, heute ein Gastraum, wurde das alte Interieur größtenteils erhalten und liebevoll gepflegt. So sitzt man zwischen weißen Wandkacheln, an Decke und Wänden finden sich noch zahlreiche Metzger-Utensilien und man glaubt, die weiß gewandete Metzgersfrau müsse jeden Augenblick um die Ecke schauen.

Im Thekenraum sind die Wände regelrecht zugepflastert mit Dokumenten vergangener Jahrzehnte. Plakate von früheren Motorradrennen, halb vergilbte Fotos von St. Überaller Originalen und Lokalgrößen, die dem Tabakrauch vergangener Jahrzehnte tapfer die Stirn bieten und Gebrauchsgegenstände aus der guten alten Zeit erzeugen ein vielfältig anregendes Ambiente.

An Freitagabenden trifft sich hier eine bunte Gemeinde. Fünf Tage Arbeit haben sich erledigt, das Wochenende steht an, und die Vorfreude auf zwei ruhige Tage herrscht vor. Allmählich füllen sich die Gasträume. Die Oldtimer-Freunde fachsimpeln rund um ihren Stammtisch über Mille Miglia, Original-Lackierungen und Weißwandreifen. Ein Arzt hat die Mitarbeiterinnen seiner Praxis zu einem Belegschaftsessen eingeladen, und an der alten Theke finden sich nach und nach die  üblichen Verdächtigen ein.

Karl-Werner, ein hervorragender Profi-Musiker, erzählt von seinen Auftritten in aller Herren Länder. Wernie, ein origineller und im Land bekannter Wirtschaftsberater, schimpft einmal wieder auf die falsche Politik der Sozialisten oder wen er dafür hält. „Sozies“ sind seine Lieblingsfeinde. Und Nosbert, der ehemalige einheimische Motorrad-Rennfahrer, schildert zum tausendsten Mal seine unvergesslichen Duelle mit Ernst Degner & Co.Ernst Degner? Mal in WIKIPEDIA nachschlagen.

In der Küche Bert, der „Patron“, mit einem feinen Händchen für’s Kulinarische, hinter der Theke seine Frau Annika,  die Seele des Geschäfts. Mit beiden Beinen fest auf dem Boden der wirtshäuslichen Tatsachen erzählt sie Neuigkeiten aus der Zitty, gibt Gesundheitstipps oder tröstet den, der es gerade braucht.

Nun, da die warme und sonnenreiche Jahreszeit zu Ende geht, der Zentralplatz langsam aber sicher keine Gäste mehr zum Verweilen lockt und Wärmebedürftige bereits an Glühwein denken, kommen die Wirtsstuben wieder zum Tragen. Die bunte, stets auf’s neue gemischte Gesellschaft wird wieder ihren Spaß haben und Leben wird in der Bude sein.

So soll es sein – so kann es bleiben …



Das Marktgeschehen (II)

Das Marktgeschehen hat in St. Überall Tradition, daran besteht kein Zweifel. Anders als heutzutage die unzähligen Events mit ihrer blassen Beliebigkeit werden Märkte in dem Städtchen bereits seit dem Mittelalter abgehalten. St. Überallinus, Schutzpatron und Namensgeber der Stadt, stand Pate für den Namen des wichtigsten Jahrmarktes weit und breit im Land. Der Markt war eingebettet in die Pilgerwoche zu Ehren des Heiligen Ende Oktober eines jeden Jahres.

Die fromme Landbevölkerung verehrte St. Überallinus als Schutzpatron des Landviehs und pilgerte zu ihm, um Schutz für ihre Stallbewohner zu erbitten. Der Pilgergang muss genutzt haben, jedenfalls zog die Verehrung des Beschützers aller Nutztiere immer weitere Kreise in der Bevölkerung. Schließlich besaß jeder kleine Tagelöhner und jeder Handwerker nebenbei eine Geiß, eine Kuh oder ein Schwein, um den kargen Speiseplan aufzubessern. Und die Tiere sollten tunlichst frei bleiben von Maul- und Klauenseuche, Schweinepest und sonstigem Gebresten.

War man schon einmal als Pilger im Städtchen, bot es sich an, auch größere Einkäufe zu tätigen. Die Nachfrage war da, also bediente der Markt sie auch. Ganz ohne wissenschaftliche Grundlagen funktionierten schon „dunnemals“ die Gesetze der modernen Marktwirtschaft. Nur nannte man das noch nicht so, und kein Gutachter verdiente viel Geld mit Binsenweisheiten.

In früheren Jahrhunderten konnte man auf dem Überallinus-Markt so ziemlich alles erwerben, was man zum einfachen Leben benötigte. Geschirr und Kleidung, Handwerksgegenstände und landwirtschaftliches Gerät, Nutzvieh und Lebensmittel konnten gekauft oder getauscht werden. Und natürlich tauschte man die neuesten Neuigkeiten aus, Klatsch und Tratsch ging von Mund zu Mund. Kurzum, auf dem Markt kam man auf seine Kosten, buntes Leben herrschte, es ging rund.

Ein einziger Jahrmarkt konnte mit der Zeit die Bedürfnisse nicht befriedigen, also kamen immer neue Märkte nach dem gleichen Muster hinzu. Pfingst- und Ostermarkt oder Annenmarkt und Palmmarkt nannte sie der Volksmund, sie wurden allmählich zu Festen im Jahreszyklus und wuchsen zu einer festen Größe im Jahresgeschehen für die Stadt- und Landbevölkerung heran. Und natürlich etablierte sich nach und nach der Wochenmarkt, der überwiegend landwirtschaftliche Produkte anbietet. Die Jahr- und Wochenmärkte leben immer noch, auch wenn sie durch die Vielfalt der übrigen Angebote wohl etwas an Anziehungskraft verloren haben. Und die Pilgerwoche besitzt ihre Anziehungskraft nach wie vor.

In jüngster Zeit tut sich nun Erstaunliches in St. Überall. Es marktet nur so an allen Ecken und Kanten. Plötzlich, nach über 25 Jahren seiner Regentschaft, entdeckte der Rathauschef die Tradition. Zuvor hielt er es zwei Jahrzehnte mit den Friseuren: er wollte immer nur „alte Zöpfe abschneiden“, so jedenfalls verkündete er es überall. St. Überall sollte eine moderne Zitty sein und kein olles Pilgerstädtchen bleiben.

Gut und schön, den Faden der Tradition aufzugreifen und ihn fort zu spinnen war ja an und für sich richtig. Was kam dabei heraus? St. Überall hat nun eine Anzahl neuer Märkte, dass einem schwindelig wird. Da gibt es etliche Flohmärkte über’s Jahr hin, ein „Automarkt“ kam hinzu, der „Dine & wine“-Markt folgte. Die Flohmärkte erklären sich selbst, beim Automarkt versperrten edle und weniger edle Karossen dem Flaneur den Weg durch die Fußgängerzone, und beim „D & W“-Markt konnte man in weißen Zelten teuren Schampus nebst Austern schlürfen. Ein monatlicher „Themenmarkt“ ergänzt das Sortiment ebenso wie ein funkelnagelneuer „Lebens-Art“-Markt. Der wird am kommenden Wochenende kreiert, man darf gespannt sein.

Nicht genug? Nun denn, Weihnachtsmarkt und Nikolausmarkt lassen grüßen und  „Großveranstaltungen mit marktähnlichem Charakter wie Oldtimertreffen und Stadtfest“, so steht es auf der offiziellen Homepage St. Überalls,  runden die Markt-Palette ab. Nur ein Markt ist gestorben, leider; für mich war er der schönste. Den guten alten Viehmarkt mit all den bunten Tupfern an Getier gibt es seit einer ganzen Reihe von Jahrzehnten nicht mehr. Bei soviel Marktgeschehen hatte das liebe Vieh wohl einfach keine Lust mehr …


Der Leerstand

Leerstand – ein Wort, das irgendwie keine guten Assoziationen weckt. Es klingt nach Beamtensprech und besitzt einen behördlichen Klang. Kurzum, „Leerstand“ klingt negativ, und so empfinden es auch die Meisten. Schließlich bezeichnet die Vokabel einen Zustand, den man nicht gerade als den Gipfel des Schönen, Guten und Wahren ansehen kann.

Was sagt das Lexikon dazu? Nichts. Im Online-Lexikon „Wikipedia“ hat sich noch Niemand an diesen Begriff herangemacht, im Rechtschreibe-Duden gibt’s das Wort nicht, und beim Googeln kommt auch nichts Gescheites heraus. Immerhin weiß man wohl, was damit gemeint ist. Als „Leerstand“ bezeichnet man den aktuellen Zustand einer vermietbaren Immobilie, deren Mieter … Ach, zu kompliziert und zu enzyklopädisch. Machen wir es einfach: Leerstand herrscht, wenn eine Immobilie nicht vermietet ist. Punkt.

In den neuen Bundesländern wird der Leerstand zahlreicher Geschäftsräume in den Innenstädten beklagt, dort können in besten Lagen selbst moderne, neue Immobilien nicht vermietet werden. Das hat natürlich seine Gründe, die nicht gottgegeben sind und die nicht weg diskutiert werden können. Junge, gut ausgebildete Menschen wandern ab in den Westen, dort wird besser gezahlt und die Karriereleiter lässt sich schneller erklimmen als im Osten.

In St. Überall (Westen) sind seit einer Reihe von Jahren eine ganze Menge an Geschäftsräumen in der Zitty nicht vermietet, auch dort herrscht Leerstand. In bester Innenstadtlage gähnen den Flaneur leere Schaufenster an. Auch in der Briegelstraße (nicht benannt nach dem Betzenberg-Fußballer Hans-Peter Briegel), einer netten kleinen Seitenstraße dicht am Zentrum, wurden etliche Ladenlokale dicht gemacht und bleiben es wohl auch.

Natürlich war und ist die Stadtverwaltung hier gefordert, zumal sie die Verantwortung an dem Zustand trägt. Über Jahrzehnte hin hatte sie zugelassen, dass sich  jenseits der Bahnlinie an der Peripherie immer mehr Supermärkte und Discounter auf der „grünen Wiese“ ansiedelten und so jede Menge Kaufkraft aus der Innenstadt abzogen und abziehen. Langfristig müssten die Rathausherren im Städtchen eine Struktur schaffen, die die Innenstadt wieder attraktiver macht und Kunden anzieht.

Und was macht man im Rathaus? Beim Stöbern in der offiziellen Homepage stieß ich auf eine Seite, die Antwort gab auf das drängende Problem „Leerstand“. „Potz tausend!“ hätte man zu Kaisers Zeiten ausgerufen angesichts der genialen Idee. Läden stehen leer – Künstler suchen Ausstellungsmöglichkeiten für ihre Werke. Also: ab mit der Kunst in die leer stehenden Geschäfte, und schon ist alles wieder freundlich hergerichtet. Das Problem bleibt bestehen, es wird einfach aufgehübscht.

Das Kind hat natürlich auch einen Naamen, "Kunst statt Leerstand" heißt es. Und wer hatte diese grandiose Idee? Sie werden  auf der richtigen Spur sein – der neue City-Broker  hatte den andernorts gar nicht so neuen Einfall. So jedenfalls steht es auf der St. Überaller Homepage. Und noch einmal „Potz tausend!“ Es war nicht der City-Broker, es war der „City-Pilot“. Nach dem „Manager“ der „Broker“ und nun der „Pilot“, man wird sprachlos ob solch kreativen Geschehens. Und natürlich wird der Pilot bei der Aussprache zum englischen „Pailet“ oder so ähnlich, man ist schließlich eine Weltstadt…



Der Bildband

Alte Fotos besitzen oft dokumentarischen Charakter. Sie spiegeln eine Situation oder einen Zustand wider, der einmal aktuell war, der aber unwiederbringlich in der Vergangenheit verblieben ist. Solche Fotos können einen auch daran erinnern, dass alles vergänglich ist und nichts bleibt, wie es war und ist. Ein bisschen Philosophie darf’s schon sein.

Mit solchen Zeitdokumenten kann man wissenschaftlich forschen, man kann  Erinnerungen wachrufen oder Entwicklungen dokumentieren. Man kann aber noch mehr damit tun, zum Beispiel Wahlkampf und Eigenwerbung betreiben. Letzteres wäre dann wiederum ein geeignetes Instrument des Wahlkampfs. Darauf muss man erst mal kommen.

So jüngst geschehen in der Zitty. Da wurde vom Rathauschef Ende November des vergangenen Jahres ein neuer Bildband vorgestellt, ein Album mit alten Schwarz-Weiß-Fotografien aus den ersten Nachkriegsjahrzehnten St. Überalls. Den in Ehren ergrauten Schnappschüssen stellte man aktuelle Fotos mit ähnlichem Kamerawinkel gegenüber, natürlich in Farbe.

Der Bildband nennt sich „25 Jahre Stadtentwicklung – St. Überall im Wandel der Zeit“ und wird gegen eine kleine Schutzgebühr kostenlos abgegeben;so jedenfalls steht es in der St. Überaller Homapage geschrieben. Im Übrigen ein durchaus repräsentativer Band, der so etwa 10,-- €uro an Selbstkosten pro Exemplar verursacht haben dürfte. 5000 Exemplare wurden aufgelegt, vom Steuerzahler finanziert.

Ein Schelm, der Böses dabei denkt. Seit 26 Jahren sitzt der Bürgermeister im Rathaus auf seinem Chefsessel und regiert die Zitty. Da passt doch eine Art fotografischer Tätigkeitsbericht über die eigenen Heldentaten nicht schlecht in die Zeit, zumal einige Monate später Kommunalwahlen anstehen.

Aber das ginge ja noch an, anderswo werden solche Spielchen auch gespielt. Ich war nun aber ziemlich überrascht, als sich im Seniorenheim auf dem Tisch meiner Schwiegermutter der Bildband fand. Und bei all den anderen Mitbewohnern ebenfalls.  Eine Pflegerin klärte die Angelegenheit auf: „Ei joo, das Buch is bei der Weihnachtsfeier an die Leit umsonschd verdählt worr. “ Man mache sich seinen Reim darauf …

Es kam noch besser. Vor dem Urnengang der Bevölkerung ist es in St. Überall üblich, an Samstagen auf dem Zentralplatz Wahlkampf zu betreiben. Und so stehen sie dann nebeneinander mit ihren Werbeständen und „kämpfen“. Die Schwarzen, die Roten, die Grünen, die Blau-Gelben und neuerdings auch die Tiefroten. Rosen in den jeweiligen Eigenfarben der Gladiatoren werden verteilt, Kugelschreiber, Luftballons für die lieben Kleinen und andere vertraute „Give-aways“ werden verschenkt.

Am Stand der staatstragenden Partei, die den Bürgermeister stützt, war richtig etwas los. Beim näher Treten konnte man den Grund des Mini-Auflaufs erkennen. Der Bildband, zum Wahlkampfinstrument des Bürgermeisters degradiert, wurde dort kostenlos verteilt, ohne Schutzgebühr. Logischerweise gingen die Exemplare weg wie warme Semmeln.

Anderswo wurde der Bildband ebenfalls kostenlos verteilt. Natürlich war die oppositionelle Stadtratspartei wütend über die Zweckentfremdung städtischer Finanzmittel, sprach von "Selbstbedienung" und begehrte Auskunft über die Finanzierung der Publikation. Es gab keine Auskunft.


Der Flaneur

Der Flaneur – schon immer eine literarische Figur, der man an allen Orten des urbanen Lebens begegnet. Natürlich auch in St. Überall. Denn es lässt sich nicht leugnen, man kann in dem Städtchen wunderbar flanieren. Natürlich haben sich einige neue Formen des Flanierens entwickelt, wie man sie vor sagen wir einmal 40 Jahren nicht kannte.

Seinerzeit gingen wir einmal rund um’s Städtchen, und dann noch einmal und noch einmal…

Wir sahen die immer gleichen Schaufenster und begegneten den immer gleichen Personen, die uns entgegen kamen, auch alle Flaneure. Man wollte nicht nur Etwas undJemanden sehen, man wollte auch gesehen werden.

Daran hat sich auch bis heute nichts geändert. Man flaniert vorzugsweise an Sonn- und Feiertagen, führt sein neues Kleid aus oder die hübschen Accessoiresund schaut sich die Neuerungen bei der „Konkurrenz“ an.

Und es haben sich im Lauf der Jahre weitere Formen des Flanierens entwickelt, die von der nachwachsenden Jugend kreiert wurden. Man verfügt schließlich oft genug schon in jungen Jahren über ein Auto oder ein Bike, und damit kann man wunderbar flanieren.

Und so drehen sie ihre immer gleichen Runden um’s Städtchen, so wie wir älter Gewordenen es früher per pedes getan haben. Die Hauptstraße hinunter, am Zentralplatz vorbei hin zur Stadthalle, links das schmale Gässchen hinab bis zur scharfen Rechtskurve. Dort befindet sich der wichtigste Platz auf der Route, dort liegen ein Café und die älteste Gaststätte St. Überalls nebeneinander. Und bei schönem Wetter sitzt dann eine andere Spezies von Flaneuren in den beiden Biergärten und lässt sich etwas vorflanieren.

Dann kommen die jungen Wilden angebraust und zeigen den Passiv-Flaneuren, wie man sich mit Schmackes in die Kurve legt. Des Öfteren führt das zu hässlichen Geräuschen, die entstehen, wenn Metall auf seinesgleichen kracht.

Andere wiederum zeigen, immer schön langsam an den Biergärten vorbei, ihre Porsches, Cabrios und Oldies und gucken dabei sehr genau, ob auch vom geneigten Publikum genügend Bewunderung abfällt. Wenn man als Biergartenstuhlinhaber einmal einen motorisierten Flaneur verpasst hat, macht nichts; der Rundendreher kommt mit absoluter Sicherheit noch ein paar Mal vorbei.

Ich selbst bin bekennender Passiv-Flaneur, mein Stammplatz ist der Biergarten an der scharfen Rechtskurve. Und natürlich ist es erst dann wirklich interessant, wenn man mit Seinesgleichen die Revue diskutieren und, sozusagen als Jury-Mitglied, die einzelnen Auftritte bewerten kann. Mittlerweile hat sich ein kleiner Kreis von Passivflaneur-Experten heraus kristallisiert, der sich zu bestimmten Zeiten einfindet; ihre „Blaue Stunde“ schlägt um die Mittagszeit am Samstag.

„Haschd Du dehne Hermann do gesiehn, der hat jo schon widda e neies Cabrio. Wo der das Geld dodefier her hat, der kann doch kä große Schpring mache.“ Hermann hat aber im Vorbeifahren einen Blick aufgesetzt, als könnte er sich jede Woche ein neues Gefährt kaufen. Muss ja niemand wissen, dass er sich das neue Topless-Modell von seinem Schwager ausgeliehen hat …

Ronnie gehört ebenfalls zu den Stammgästen im Biergarten. Er hat bereits viel von der Welt gesehen, zu einem Stichwort hat er immer Geschichten auf Lager, als Erzähler ist er ein Naturtalent. Ronnie war erfolgreicher Kaufmann, er kennt Jeden und Alles und zu vielen Autoflaneuren, die vorbei rauschen, kann er eine Story erzählen.

So sitzen sie denn da, trinken ihren Espresso oder ihren Crémant und fühlen sich als Flaneure -aktiv oder passiv- eins mit der Welt.


Marktgeschehen (I)

Wochenmärkte sind aus einer Zitty nicht mehr wegzudenken. Sie tragen wesentlich zur Versorgung der Bevölkerung mit Gemüse, Obst, Fisch und Fleisch bei. Und sie sind beliebter Treffpunkt der Marktgänger. Einmal, manchmal auch ein zweites Mal trifft man sich über die Woche "off'm Maad", hält sein Schwätzchen und tauscht wichtige und weniger wichtige Neuigkeiten aus.

Wochenmärkte haben ihren eigenen Charakter. Sie können langweilig sein, abwechslungsreich oder nur ein schmales Segment an Produkten anbieten. Oder ein breites.  Sie können an zentralen, oft über Jahrhunderte eingeführten Plätzen abgehalten werden, oder in einen Nebenbereich „strafversetzt“ werden.

So zum Beispiel in St. Überall. Man hat dort zentral gelegene Plätze, einen netten Platz im Zentrum und ein paar Meter weiter einen uralten Marktplatz an der Kirche.

Und wo findet der Wochenmarkt statt? Um ein paar Ecken muss der Besucher wandern, dann kommt er auf eine Fläche, leicht versteckt und nicht allzu zentral liegt dieser Platz. Dort parken jede Menge Autos. Und daneben, auf einer frei gehaltenen Fläche, muss sich der arme Markt mit seinem Standort abfinden. Die Rathausoberen haben es so gewollt.

Dieselben Oberen preisen dann das Marktgeschehen als „regionales Einkaufszentrum für frische Lebensmittel“ und schwärmen vom „mediterranen Flair“ im Stadtzentrum -pardon: Zitty- St. Überalls. Na gut, die Stände sehen ordentlich aus, angeboten werden marktgängige Produkte. Außer der Sonne, wenn sie denn mal in diesem Sommer scheint, vermag man nichts Mediterranes zu erkennen.

Irgendwie muss es den Rathausstrategen dann doch etwas zu wenig an Marktsubstanz gewesen sein, sie suchten nach weiteren Möglichkeiten, das Marktgeschehen in St. Überall noch hochkarätiger zu gestalten. Und erfanden den „Themenmarkt“. An jedem ersten Samstag in den Monaten April bis Oktober bauen die Händler, diesmal wenigstens an zentraler Stelle bei der Kirche, ihre Stände auf und bieten Waren zu einem bestimmten Thema an, immer bezogen auf die aktuelle Jahreszeit.

So heißt das Thema im Juni etwa „Erdbeeren“, im Mai ist es der “Spargel“. Neugierig trat ich im Mai zu meinen ersten Themenmarktbesuch an, Spargel war angesagt. Es war tatsächlich ein Obst- und Gemüsestand, der unter anderem auch Spargel anbot, auf der Fläche. Wohlgemerkt – einer. Die restlichen etwa ein Dutzend Stände boten feine Sachen an, nur keinen Spargel. Man konnte wunderbaren Balsamico-Essig erstehen, Marmeladen und Honig kaufen oder sich an einem Glas Prosecco oder Bier gütlich tun.

Das war dann der Themenmarkt „Spargel“. Ein dreifaches „Hoch!“ auf das Zitty-Marketing. 


Der Zitty-Manager

Heute feiern die Franzosen ihren Nationalfeiertag, den "Quatorze juillet",  und die Zitty unserer Landeshauptstadt ist fest in der Hand unserer lothringischen Nachbarn. Vor zwei Jahrzehnten hätte noch niemand geglaubt, dass Shopping und Sightseeing jenseits der Grenzen an der Tagesordnung sein könnte.

Sie merken: „Shopping“,  „Sightseeing“ – die Zitty färbt wohl doch sprachlich ab…

Zurück zu St. Überall. Neulich -ich kam gerade von einem Besuch aus dem Seniorenheim zurück- kam mir eine kleine Gruppe von Menschen auf der Straße entgegen. Irgendwie sahen sie recht wichtig aus. Sie trugen Dokumentenmappen unter dem Arm, ihr gemessener Schritt vermittelte den Eindruck von Würde, ihre ernsthaften Gesichter ließen auf eine bedeutungsvolle Thematik, die sie wohl zusammengeführt hatte, schließen.

Einer ging voran. Nach einigen Schritten verweilte er, drehte sich zu den anderen um und redete auf sie ein. Mit weit ausholenden  Gesten zeigte er auf eine Laterne am Straßenrand, dann auf ein Haus und beschrieb mit dem Arm einen imaginären Bogen. Die Neugierde war geweckt.

Ein guter Bekannter kam vorbei. Auf meine Frage, ob er diese Situation deuten könne, nickte er: „Ei joo, das doo is de neie Sitty-Brooka met seine Leit. Die solle aus St. Iwwaall was mache unn gehn dodefor zuerscht mol gugge.“ Ich verstand: Bestandsaufnahme. Aber „Zitty-Brooka“? Was war das schon wieder und wozu?

Zu Hause hat das Lexikon geholfen, nicht so ganz, aber ein wenig. „Broker“ wird dort übersetzt mit „Makler“. Ein „Stock Broker“ ist also ein Börsenmakler, ein „Money Broker“ wird mit Geldvermittler übersetzt, ein „Yacht Broker“ nennt sich in gepflegtem Deutsch Bootshändler – aber was zum Teufel bedeutet „City Broker“? Verkauft ein solcher Mensch ganze Städte? Und wenn ja, an wen denn? Und wer kriegt den Erlös eines solchen Verkaufs?

Dann kamen Erinnerungen. Erinnerungen an vergangene Zeiten, in denen der St. Überaller Bürgermeister Großes vorhatte. Man wollte die Innenstadt beleben, sie hatte es auch tatsächlich nötig. Angesagt war gerade ein neues Marketing-Wundermittel, ein Konzept namens „City-Management“. Gewundert haben sich damals viele - die einen über das Konzept und die anderen über die immensen Einnahmen, die ihnen ein solches Konzept in die Kassen spülte.

Die einen, das waren die braven Bürger, die trotz allem Geklappere aus dem Rathaus nichts verstanden. Und die anderen, das waren die Anbieter solcher Konzepte, die sich dann logischerweise „City Manager“ nannten.

„City Management“ erwies sich als Goldesel, der Dukaten am Stück fabrizierte. An einen dieser häufig selbst ernannten Fachleute erinnere ich mich gut. Er hieß Fröhlich, war es auch angesichts seiner kommunalen Melkkühe und kam, wenn ich es korrekt erinnere, aus der bajuwarischen Landeshauptstadt.

Der Herr Fröhlich wurde vom Rathaus beauftragt, die City zu managen. Und weil er ein ökonomisch handelnder Profi war, musste die Stadt erst einmal viel Geld hinlegen, damit er das auch tat. Dann kamen Einzelaktionen, die dann in ihrer Summe „Konzept“ genannt wurden. Auch die kosteten jede Menge an Geld und waren standardisiert. Man konnte sie also in jeder beliebigen Stadt aus der Schublade kramen und in Szene setzten.

An Ostern wurden bunte Eier an Laternen und andere Objekte, die sich nicht wehren konnten, gehängt und Blumenkübel mit Frühlingsblumen bepflanzt. Im Sommer wurden Feste im Freien veranstaltet, im Herbst Erntedank gefeiert und im Winter kamen Tannenzweige an Verkaufsstände, das war dann der Weihnachtsmarkt.

Und Herr Fröhlich verkündete dem staunenden Volk zusammen mit dem Bürgermeister, dies alles sei City-Marketing. Und St. Überall sei nun eine lebendige und hochattraktive Stadt, die sich bald vor Einkaufswilligen, Touristen und Flaneuren nicht mehr werde retten können.

Dann war Herr Fröhlich plötzlich weg. Die Einkaufslustigen, Touristen und Flaneure hatten sich nicht an seine Prophezeiungen gehalten, sie kamen einfach nicht in der gewünschten Anzahl. Gar nicht fröhlich waren die Städtischen, das hatten sie sich ganz anders vorgestellt. Und viele Steuergelder waren mit Herrn Fröhlich weg.

Der nächste City-Manager kam. Diesmal wollte man es richtig knallen lassen, noch mehr Aktionen wurden geordert. Die Innenstadt -pardon, die City- sollte vor Leben nur so quirlen, vor den Geschäften sollten sich Schlangen bilden, die Kaufleute sollten ihre City-Läden wegen Reichtums schließen können. Und der Ruf St. Überalls sollte in die ganze Welt getragen werden.

Der Ruf St. Überalls machte anscheinend an den saarländischen Grenzen halt, jedenfalls kam er nicht weit. Viel Geld war wiederum weg, ebenso der City-Manager. Weitere Marketing-Strategen kamen und gingen, immer wieder vom Bürgermeister angekündigt wie Wunderheiler. Doch sie wirkten weder Wunder, noch konnten sie heilen. Immerhin nannten sich all diese Freunde von der Marketing-Front „City-Manager“.

Tja, nun wären wir wieder bei unserer ernst dreinschauenden Truppe mit ihren Dokumentenmappen unter’m Arm. Angeführt von einem „City-Broker“, der nun aber -im Gegensatz zu den frei schaffenden City-Managern- fest bei der Stadt angestellt wurde. Da hat man ihn wohl besser im Griff, werden sie sich wohl im Rathaus gedacht haben. Und er kann nicht so einfach abhauen wie der Herr Fröhlich, nachdem er Kasse gemacht hatte.

Dann sind wir aber mal alle gespannt, was ein Broker alles besser machen kann als ein Manager.